Opferkult

Der Text ist ein Auszug aus Frauen und Männer passen nicht zusammen – Auch nicht in der Mitte

„Während die alte Sexualität positiv mystifiziert wurde als Medium der Befreiung, als Rausch und Ekstase, wird die neue negativ mystifiziert als Quelle und Tatort von Unfreiheit, Ungleichheit der Geschlechter, Gewalt, Missbrauch und tödlicher Infektion.“
Volkmar Sigusch, Sexuelle Störungen und ihre Behandlung

Im Zuge eines etwas länger andauernden Verzweiflungsschubs hat der einsame Jonas es (…) mit Onlinedating versucht. Innerhalb kürzester Zeit brachte er es auf eine erstaunliche Anzahl neuer Bekanntschaften, die eine noch erstaunlichere Zahl psycho-physischer Defekte ihr Eigen nannte. Eine essgestörte Theologiestudentin, die sich gelegentlich ritzte, eine hauptberufliche Borderlinerin mit sporadischen Ansätzen, Regie zu studieren, eine noch essgestörtere ehemalige Veganerin, die von ihrer Exfreundin (!) regelmäßig verprügelt worden war und zu der Zeit gerade auf Mediengestalterin umschulte und wegen des Stress´ regelmäßig ganze Prinzenrollenpackungen verdrückte und gleich wieder von sich gab, eine depressive Tänzerin und eine Lehrerin, die eigentlich Künstlerin war.

Ihnen allen waren ihre Zustände natürlich kein bisschen unangenehm. Einige deuteten es schon in ihrem Profil an, meistens durch poetische Referenzen an popkulturelle Phänomene, die den Sensibleren unter den potentiellen Partnern gleich signalisierten „Hier wohnt ein empfindsames Gemüt“, (…) andere begannen mit der Seelenentblößung erst beim Chatten. Entweder hielten sie ihre Defekte für das Beste an sich oder hatten wirklich nicht das Gefühl, sich von ihrer besten Seite zeigen zu müssen. Denn ist es nicht so, dass derjenige, der sich bei der ersten Kontaktaufnahme eine selbstzerstörerische, schmerzhafte und monologisierende Lebensbeichte über Traumata, Frustrationen und Defekte freiwillig gibt, doch einfach der Richtige sein muss?
Jonas hatte durch die überraschende Offenheit natürlich ein deutlich abgeschwächtes erotisches Interesse an den Frauen, las sich aber, weil er ein gutmütiger Kerl ist und eben recht verzweifelt war, in seiner spärlichen Freizeit ein beträchtliches Wissen über Anorexie und Bulimie, Gewalt in gleichgeschlechtlichen Beziehungen, eingebildete Grand Mals und das Drama unverstandener Genies an.
Er stellte zu seinem Erstaunen fest, dass all diese Themen als tabubelastet gelten.
„Ein seltsames Tabu ist das“, wunderte er sich einmal, „das man auf sein Profil bei einer Dating-Plattform postet. Ich traue mich kaum noch zu fragen `Wie geht‘s?´, weil dann gleich wieder kommt `Ich habe heute Nacht von meinem Onkel geträumt, der mich als Kind immer fotografiert hat´.“
Jonas schrieb handtuchlange Päppel-Mails, schickte sensible Geburtstagspäckchen, machte Vorschläge für Nicht-Essensbezogene Abendgestaltung und verschaffte der Lehrerin einen Termin bei einem bekannten Galeristen.
Als er das Gefühl hatte, bei der Mediengestalterin gute Fortschritte zu machen, zog sie wieder bei ihrer Exfreundin ein, die Theologin, mit der er Stunden am Telefon über menschenfeindliche Körperbilder in der Werbung gesprochen hatte (sie hatte gesprochen, er in den Hörer genickt), kam mit einem Fitnessstudiobesitzer zusammen und sagte auf seine Nachfrage, ob das denn nicht inkonsequent sei, sie hätte ihn für `seelisch reifer gehalten´ und sehe sich nun gezwungen, den Kontakt abzubrechen, weil sie `da so Strukturen erkenne´. Die Lehrerin, na klar, vögelte anderthalb Mal beinahe mit dem Galeristen und als der nicht mehr anrief, war Jonas schuld.
Von den anderen hat er einfach so nie wieder etwas gehört.
„Ich war ihnen wahrscheinlich nicht tief genug“, sagte er. Angelesen ist halt nicht dasselbe. Und wer sich trotz ihrer Fehler für diese Frauen interessiert, der erscheint ihnen eben leider auch als ziemlicher Loser. Wer mich mag, der muss doch ein Idiot sein.

„Unerträgliche Einsamkeits- und Hilflosigkeitsgefühle werden durch Manipulation, Selbstviktimisierung und Erregungszustände mit Thrill-Suche bewältigt“, heißt es in der “Leitlinie Persönlichkeitsentwicklungsstörung – Narzisstische, antisoziale und Borderline-Entwicklungsstörung“ der Vereinigung Analytischer- und Jugendlichen-Psychotherapeuten.
Warum aber sollte man sich selbst zum Opfer machen wollen?
Es geht halt wirklich nichts über einen attestierten Defekt. Denn Opfer lieben alle. Alle wollen Opfer sein. (Selbst die, bei denen Opfer ein Schimpfwort ist, die deutschen Gangsta-Rapper, jammern in ihren Texten herum wie der Landausflug eines niedersächsischen Realschulkollegiums.)
Die Leute identifizieren sich mit ihren Krankheiten, seien sie nun albern oder dramatisch. Hauptsache, sie sind ein Teil von ihnen. Dadurch, dass jeder proaktiv leidet, werden selbst jene, denen tatsächlich etwas Schreckliches widerfahren ist, bloß zu einer weiteren Stimme im Chor der Selbstdarsteller.
Unter dem Mäntelchen des Tabubruchs erzählt Gundis Zámbó bei Kerner von ihrer Bulimie, Xavier Naidoo plaudert beim selben Gastgeber darüber, wie der indische Gärtner seiner Eltern ihn befummelt hat, Teri Hatcher (die Irre aus Desperate Housewives – okay: diese Beschreibung schränkt es nicht ein: die brünette Irre) war mit ihrer Missbrauchsstory weltweit in den Schlagzeilen und auch Ross Antony, der Dschungelkönig, kann mit so einer Geschichte aufwarten. (Teaser in der Bild: „Ross Antony ist emotional am Ende. Der Ex-Bro’Sis-Sänger weint sich durch das Dschungel-Camp. Ex-Erotik-Queen Gina Wild offenbarte er jetzt den Grund für seine Tränen: Ross wurde als Kind missbraucht.“)
Missbrauch ist so tabu, dass in den USA ein schwungvoller Markt darum herum erstanden ist. Die Autorin Elaine Showalter berichtet vom „Inzest-Kitsch“, der längst ein großes Geschäft geworden sei („angeboten werden Selbsthilfe-Kassetten, T-Shirts, Selbsthilfegruppen und Bestseller“).

Auf testedich.de kann man das Quiz „Kennst du die Krankheiten der Stars?“ spielen:

Amy Winehouse ist
Herzkrank  
An Lungenkrebs erkrankt  
Drogenabhängig  
An Brustkrebs erkrankt  
Spielsüchtig

Die Sängerin Anastacia hat
Diabetes  
Asthma  
Magen-/Darm-Beschwerden  
Magersucht  
Entzündliche chronische Darmerkrankungen

Halle Berry hat
Essstörungen  
Durchfall  
Diabetes  
Seekrankheit

Christina Applegate hat
Lungenkrebs  
Blutkrebs  
Hautkrebs  
Augenkrebs  
Brustkrebs

Über Naidoo schrieb die Bunte im Oktober 2009, als der Missbrauch pünktlich zum aktuellen Album noch einmal in einer zweiten Welle durch die Medien ging:
„Aus Angst und Scham habe er den Missbrauch immer verschwiegen und sogar seiner Mutter erst vor wenigen Jahren davon erzählt.“ Die Angst ist ja nun weg, die Scham anscheinend auch. Und ist es nicht immer gut, frei von der Leber weg die Welt zu seiner Therapeutencouch zu machen?
Während man in den europäischen Metropolen des achtzehnten Jahrhunderts noch ungeniert mit Fremden plaudern konnte, weil man einander nicht mit Privatem behelligte, ist man heute immer ganz man selbst und muss mit allem rausrücken.
„In unserer Zeit“, so der Historiker Christopher Lasch in „Das Zeitalter des Narzissmus“, „haben Beziehungen in der Öffentlichkeit die Form von Selbstenthüllungen angenommen und sind damit von tödlichem Ernst. Gespräche sind zu Bekenntnissen geworden.“
Natürlich sollte sich niemand seiner Krankheit schämen. Aber muss man sich denn unbedingt damit brüsten, dass man sich ritzt? (…)
Distanzlosigkeit ist die Norm, Sennett nannte das den „Terror der Intimität“.
Es gehört zum guten Ton, an MCS, CFS oder ADHS zu leiden und das zur Begrüßung zu sagen. Hach, die ganzen künstlichen Gerüche hier, der schreckliche Stress, die Ablenkung! Ich bekomme keine Luft mehr, ich bin so müde, ich komme zu nichts!

Wer nichts hat, der ist am Ende noch normal und das ist nun einmal wirklich kaum zu heilen. Einer Kandidatin bei Deutschland sucht den Superstar bricht die Stimme, als sie von ihrer Diabetes erzählt, eine andere bindet der Jury zur Begrüßung auf die Nase, dass sie herzkrank ist (Bohlen hatte unvorsichtigerweise nach ihrem Tattoo gefragt, das selbstverständlich aus einem Herz mit ihrem „neuen Geburtsdatum“ bestand). Als sie dann weiterkommt, weil Bohlen findet, sie könne zwar nicht singen, habe aber schöne Augen, stürmt sie zu ihrer Mutter und ruft „Ich habe nur Komplimente bekommen!“, eine gewagte These für jemanden, der bei einem Sangeswettbewerb gesagt bekommt, er könne nicht singen, aber wir sind hier ja unter Narzissten.
Wenn es einem rechtzeitig an etwas Modischem gebricht, dann hat man gute Aussichten, auf die Betroffenencouch bei Anne Will zu kommen und mit Leidensmiene davon zu sprechen, dass man nie darüber sprechen dürfe.

Mit ein wenig Glück sitzt das Opfer wenig später neben Veronica Ferres, die einen Film basierend auf dem Leben des Betroffenen dreht und einen Selbsthilfeverein gründet, bei dessen Gründungsfeierlichkeiten ihre Stimme kurz bricht und ihr Blick tränenumflort ins Nichts wandert.

Aber woher kommt dieser Opferkult? Zum einen ist er sicherlich Ausfluss der narzisstischen Gesellschaft, denken Sie an die typische Selbstviktimisierung. Eine unerklärliche Krankheit rückt einen halt doch recht zuverlässig in den Mittelpunkt und macht einen speziell. Aber auch politisch ist das Opfertum durchaus gewollt.

Wer sich beschwert, der bekommt recht. Linke finden Opfer ja sowieso toll, aber auch Neoliberalen kommt es gelegen, wenn mit Hilfe der sich beschwerenden Opfer der öffentliche Raum immer weiter eingeschränkt und somit nach und nach den Gesetzen des Privaten unterworfen wird. Schon seit 2000 darf man sich im kanadischen Halifax in öffentlichen Gebäuden nicht mehr parfümiert aufhalten, immer mehr Universitäten erlassen Verbote für künstliche Duftstoffe.

Vom Rauchen oder gar Anzüglichkeiten gar nicht zu reden. Nicht mehr lang und der öffentliche Raum wird keimfrei und unbewohnbar sein wie das Wohnzimmer eines Super-Allergikers. Ein Flirt verletzt dann nicht nur die Privatsphäre des Angeflirteten sondern auch der Umstehenden. „Lernen Sie Leute doch bitte zu Hause kennen!“
Tristesse normale halt.
Der Opferkult killt jede Erotik gleich auf mehreren Ebenen: Zum einen macht es der starre Blick auf sich und das eigene Leid dem Opfer leicht, sein mangelndes Interesse an anderen zu begründen.
„Mich hat nie eine gefragt, wie es mir geht“, sagt Jonas, aber er hatte auch kein Attest und war in keiner Onlineselbsthilfegruppe (bis er gemerkt hat, dass er natürlich doch in einer war, nur hieß sie halt Singlebörse).

Wie The Last Psychiatrist schon sagte: „Es hilft einem in einer narzisstischen Kultur nichts, kein Narzisst zu sein.“ Wer hilfsbereit ist wie Jonas, der ist den professionellen Opfern schutzlos ausgeliefert.
Zum anderen muss jede Form verführerischen Verhaltens zurückstehen hinter dem Bekenntnis des eigenen Leids, jede Höflichkeit würde nur den Moment der Selbstenthüllung herauszögern. Und auch im öffentlichen Raum fällt nach und nach alles flach, was unsere Urgroßeltern noch zur Verlobung führte.

Flirten wird zum Eingriff in die Privatsphäre degradiert. Feuer reichen, cool inhalieren, aufregend nach künstlichen Stoffen duften: Machen Sie das bitte zu Hause.
Man kann jedoch immer noch wichsen, vielleicht schafft man es in eine Talkshow, in der man dann über Pornosucht philosophiert, mit Veronica Ferres und anderen passionierten Opferanwälten.

24 comments

  1. Da rieche ich doch einen Kommentar, haha.
    Wie sagte die Sekte schon so treffend “Alles klar: Du bist ein Opfer, doch du bist selber schuld/ Du stresst meinen Arsch und meine Geduld”.
    Immer feschte druff!

  2. Vielen Dank für den Auszug. Habe mich köstlich amüsiert und nun ein Buch mehr auf meiner Leseliste für die kalten Tage.

  3. Matthias Schumacher

    Der Auszug hilft gegen Depressionen und Burnout und all das andere Zeug, ohne das man heute einfach kein Mensch mehr ist (und in keine Talk-Show kommt).

  4. mühsamer Erich

    Ernsthaft, im Zusammenhang mit den Diskussionen der letzten Tage ist dieser Ausschnitt nicht nur ein selbstentblößender Kommentar von Malte zu den Debatten, sondern auch ein Schlag ins Gesicht all derer, die tatsächlich Opfer bzw. belastet sind, missbraucht, geschlagen, befummelt, beleidigt.

    Einfach nur Häme dazu? Das ist so arm, Malte!

    Vielleicht hätte es sich tatsächlich gelohnt, über Selbstopferisierungen zu sprechen, sei es als eigensüchtige und Aufmerksamkeit suchende Selbstdarstellung, sei es als politische Strategie oder auch das verlogen selbstopferisierende Jammern derjenigen, die etwas über Sexismus oder Rassismus dazu lernen könnten, und nun einfach abblocken bzw. Abwehr betreiben. Es sind in den Debatten der letzten Tage viele falsche Worte gefallen, blinde Pauschalverurteilungen, blinde Aggression. Auch von mir, und ich bin noch mitten dabei, aus meinen Irrtümern zu lernen.

    Malte, ist es wirklich nur Selbstopferisierung, wenn eine antirassistische Autorin, die selbst schon vielfach und ausgesprochen übel Opfer rassistischer Gewalttaten wurde, wegen eines allemal rassistisch verstehbaren Symbols beleidigt reagiert?

    Deine Antwort darauf ist nur Häme.

  5. @mühsamer Erich
    Zunächst einmal möchte ich zu deinen gelungenen Satiren hier in den Kommentaren gratulieren. Wäre ich Feuilletonist, dann würde ich sagen: Du hast den aus zusammengeklaubten Versatzstücken der Vulgärsoziologie zurechtgebastelten Jargon der Profiopfer bis zur Kenntlichkeit entstellt.

    Ich will aber nun tun, als sei dein Einwurf ernst gemeint.

    Es kann einen therapeutischen Wert haben, sein Opfersein zu akzeptieren. Ich kenne einige Menschen, die mussten irgendwann die Hypothese, ihre Kindheit sei ganz wunderbar verlaufen, fallen lassen und einsehen, dass man eben doch leidet, wenn man halbtot gedroschen wird. Auch für sexualisierte Gewalt gilt genau das: Man muss anerkennen, dass es nichts in einem selbst war, dass die Gewalt ausgelöst hat.

    Robert Misik hat in seinem Podcast einmal sehr differenziert Stellung zu der Selbstviktimisierungsproblematik bezogen.

    http://www.misik.at/Opfer.MP3

    Nun ist dieser Text mindestens anderthalb Jahre alt. Im Kontext der Diskussion der vergangenen Tage kommt ein Aspekt in ihm besonders zum Tragen: Der Professionalisierungsgrad der Opfer.

    So wenig ein Dealer sich für die Legalisierung von Drogen einsetzt, so wenig möchte jemand, der Gender- und Diversity-Kompetenz studiert, eine freiere und gleichere Gesellschaft. Er braucht den Missstand wie der Dealer die Illegalität.

    Das ändert nichts daran, dass es diese Missstände gibt. Es zwingt lediglich dazu, genauer hinzusehen und nicht jedem, der “Wolf!” schreit, blind zu folgen. Er könnte ein eigenes Süppchen auf dem Feuer des gerechten Anlasses kochen.

  6. als Ergänzung: das ist ein Punkt, den Charlotte Roche in Schoßgebete sehr offen und ehrlich darlegt. wie Elisabeth es igrendwie auch genoss, so im mittelpunkt zu stehen, weil sie diesen wahnsinnsverlust des todes ihrer brüder erlitt. und wie sie sich wegen dieser erfahrung auch den tod ihrer tochter und ihres mannes vorstellt, fast herbeiwünscht, weil sie dann wieder diese aufmerksamkeit bekäme… sehr spannend, ich empfehle, das mal zu lesen.

  7. @Kadda
    Und auch bei Roche bedeutet das ja nicht, dass der Tod ein positives Ereignis war. Es geht eben um Ambivalenzen, die man in einem Fanatikstudium eher nicht mitbekommt. (Im Studium der Sozialpädagogik jedoch durchaus.)

  8. “So wenig ein Dealer sich für die Legalisierung von Drogen einsetzt, so wenig möchte jemand, der Gender- und Diversity-Kompetenz studiert, eine freiere und gleichere Gesellschaft. Er braucht den Missstand wie der Dealer die Illegalität.”
    Achnaja. Da ist zwar leider durchaus was dran, aber in der Verallgemeinerung in der du das formulierst heißt das letztlich auch, dass eine N. Sow eigentlich Rassismus will. Und das ist dann doch irgendwie nicht fein.
    Andererseits würde ich sowas vermutlich auch schreiben, wenn ich mich an einem Wochenende ungefähr 200 Mal als rassistischer, zynischer, dummer, arroganter Sexistenarsch bezeichnen lassen müsste.

  9. Opfersein oder Sucht als Lebensinhalt ist in vielen Fällen auch das, was die Betroffenen davon abhält, gesund werden zu wollen, eigenständig sein zu wollen, die Erfahrungen los zu lassen und ihr Leben unter einer anderen Prämisse gestalten zu wollen. Das fällt zusammen mit dem, was Kadda bei Roche referenziert. Das muss nicht immer mit Narzissmus zusammenfallen, eher mit dem Selbstverständnis der eigenen Person, die man untrennbar mit dem Opferstatus verbunden sieht: Wenn es mir nicht mehr schlecht geht, wer bin ich dann eigentlich? Bei den prominenten Beispielen bekommt man teilweise den Eindruck, dass sie erst durch die Selbstoffenbarung einmal Opfer gewesen zu sein, zu etwas werden. Der “Opferkult” in Medien und Gesellschaft bestärkt leider, dass im Opfersein verhaftet zu bleiben “chic” ist. Gemünzt auf den Feminismus bliebe dann die Frage: Wenn ich als Frau nicht mehr Opfer einer patriarchalen Gesellschaft bin oder sein will, was bin ich dann oder was will ich dann sein?

  10. > Es gehört zum guten Ton, an MCS, CFS oder ADHS zu leiden

    Pointe nicht gefunden.

    CFS ist eine Autoimmunerkrankung, und wer die wirklich hat, kokettiert wohl kaum damit.
    http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/47760/Hilft_Rituximab_bei_chronischem_Erschoepfungssyndrom.htm

    Vielleicht gehört es ja neuerdings zum guten Ton unter Gesunden, die Kranken als uncoole Hypochonder hinzustellen, wer weiß.

  11. @Irene
    Der Punkt ist nicht, ob nun CFS eine Autoimmunkrankheit ist oder nicht (auch wenn diese Annahme mit guten Gründen bestritten wird), der Punkt ist, dass es nicht unüblich ist, zwei Wochen lang müde zu sein und sich selbst mit CFS zu diagnostizieren.

  12. Wer mir mit Müdigkeit kommt, den schicke ich in eine gute Schilddrüsenpraxis, und die Frauen zusätzlich zum Eisenmangel-Check. Dass die alle miteinander neurotisch sein sollen, nur weil ihre ergoogelte Selbstdiagnose vermutlich falsch ist, ist doch nicht logisch.

    Dass man vom Jammern tatsächlich viel hat, bezweifle ich mal. Wer ständig von Krankheit redet, kriegt nur Verständnis von Wichtigtuern mit Helfersyndrom, und das ist nicht viel wert.

    Und um z.B. mit einem veröffentlichten Burnout zu punkten wie die Meckel, muss man erst mal die Voraussetzungen mitbringen. Wenn eine Bürogehilfin sowas im Selbstverlag bringt, führt das nur dazu, dass sie nicht mehr eingestellt wird.

  13. @Tessa
    Nach meinem Verständnis gehört es zum Narzissmus dazu, dass das Selbstbild höher geschätzt wird als das, was dem Ich gut tut.
    Daher geht es ja auch in dem neuen Buch von Robert Pfaller folgerichtig um Materialismus. Und in die Richtung scheint mir auch dein Denken zu gehen: Wie kann ich besser leben, unabhängig von meinem Status als Opfer oder Nicht-Opfer.

  14. @Christoph
    Nein, nicht Rassismus. Aber rein theoretisch könnte so eine Lampe auch mal ganz gelegen kommen. Wirklich nur: theoretisch.

  15. @irene
    http://de.wikipedia.org/wiki/Krankheitsgewinn

  16. ich werde diskriminiert!

    “Wenn ich als Frau nicht mehr Opfer einer patriarchalen Gesellschaft bin oder sein will, was bin ich dann …?”

    dann bist du selbst für dich verantwortlich. aber wer will das schon, wenn man doch mitleid, fürsorge und aufmerksamkeit bekommen kann?!?

  17. Selbst die, bei denen Opfer ein Schimpfwort ist, die deutschen Gangsta-Rapper, jammern in ihren Texten herum wie der Landausflug eines niedersächsischen Realschulkollegiums.

    Tihihi :)

  18. mühsamer Erich

    Opferkult klingt hier fast schon wie “Schuldkult”.

  19. @ Vrio: Ich mag keine psychoanalytischen Thesen, weil sie ohne Beweise auskommen und trotzdem so verkauft werden, als seien sie allgemeingültig.

    Ich könnte jetzt auch behaupten, dass Leute, die einen Opferkult oder einen Krankheitsgewinn postulieren, sich selbst unbewusst versichern wollen, über Krankheit erhaben zu sein, weil sie selbst nicht so bedürftig oder abhängig oder sonstwas sind, dass sie sowas nötig hätten. (Vielleicht stimmts sogar, man weiß es ja nicht.)

  20. (Anders gesagt: Psychoanalyse und Tiefenpsychologie sind sowas Ähnliches wie Religion, sie werden nur weniger hinterfragt.)

    Malte, Dein Blog ist ein komischer Typ. Mit einem veralteten IE kann ich hier schreiben, mit einem aktuellen Firefox nicht.

  21. gefällt mir super dein buch, wäre auch ein spitzengeschenk für leute, die man kennt u mag – wäre nur der beknackte titel nicht.

  22. Mit etwas Abstand bin ich gerade nochmal hierauf gestoßen. Zunächst: toller Text!

    Was mich interessiert ist jedoch, wie Texte, die auf Missstände aufmerksam machen, gern Kritik auf sich ziehen. Das ist einerseits nicht schlecht, denn man kann gern Dinge in Frage stellen.
    Auf der anderen Seite kann Kritik auch sehr spitzfindig sein und dem Kritisierten das Wort im Munde umdrehen oder ihm Worte in den Mund legen oder Gedanken in den Kopf, die dort niemals waren. Dann nützt manchmal die beste Verteidigung nichts, wenn keine wohlgesonnene Interpretation intendiert ist. Ich merke das bei mir selbst, denn auch ich kann sehr kritisch sein. Doch zunächst sollte man die beste Interpretation für den Autoren annehmen, denke ich.

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