Generation Wix (Teil 1)

„Wir steuern auf eine Masturbationsgesellschaft zu.”
Oswalt Kolle, im Interview mit Spiegel Online

Als Kabul vom Regime der Taliban befreit wurde, war in einer Reportage zu sehen, wie ein junger Mann Bilder an andere Männer verkaufte. Afghanische Pornographie. Es handelte sich um Aufnahmen, von nackten, bloßen, ganz und gar unverstellt der Kamera dargebotenen … Gesichtern.
„Pornographie ist ein Bild oder Video, an dem man nach dem Masturbieren plötzlich das Interesse verliert“, sagt der amerikanische Satiriker David Wong und liefert damit die treffendste Definition. Fetischistische Bildergalerien von Frauen, die ihre Zehen zeigen, Mädchen mit Zahnspangen, muskulösen Männern, die in Stringtangas miteinander ringen, reifen Frauen aus deiner Umgebung mit behaarten Waden, sie alle werden als Pornographie genutzt.
Obwohl Pornographie also alles mögliche sein kann, eines ist sicher: Jeder hasst Pornos.
Konservative hassen Pornos, Linke hassen Pornos, Feministinnen hassen Pornos.
Adolf Hitler hasste Pornos, die RAF-Terroristin Verena Becker startete ihre Terrorkarriere, indem sie Pornoläden anzündete und schließlich holte George W. Bush zum bisher gewaltigsten Schlag gegen die Pornoindustrie aus; in seiner ersten Regierungserklärung ging es nicht um Bandenkriminalität oder Terrorismus – es ging um die Bekämpfung der Pornographie.
Völlig vergeblich. Denn alle wollen Pornos schauen, immerzu, auf dem Handy, auf dem Laptop, auf dem Fernseher. Wobei „Alle“ heißt: alle Männer und gar nicht so wenige Frauen. Menschen lieben es, anderen Menschen beim Sex zuzusehen. Unsere Spiegelneuronen ermöglichen es uns, dargestellten Sex zu erleben, als hätten wir ihn selber. Generation X, Generation Y, Generation Golf, Generation Praktikum, Generation Chips, Generation C64, Generation ABBA, Generation Ally, Generation Elvis und Generation Wackersdorf sitzen vor ihrem PC und schauen sich Pornos an. 2004 kamen allein in den USA 11.000 pornographische DVDs auf den Markt. Dagegen gibt es pro Jahr nur 600 neue Hollywoodfilme.
Nichts wird so häufig als Ursache der Krise der Liebe genannt wie die Pornographie. Früher war sie ein Verstoß gegen die guten Sitten, dann hieß es, sie verleite dazu, Frauen zu vergewaltigen und heute glaubt man, wegen der Pornographie hätten Männer keine Lust mehr auf Sex.
„Das Internet kann zu einem Fluchtbereich für Männer werden. Sie schaffen sich eine Welt jenseits der Partnerschaft“, sagt beispielsweise der Paartherapeut Ulrich Clement. Und Naomi Wolf, die ja ihre Freundin um den Schleier beneidet, glaubt, Frauen fühlten sich nicht mehr wohl in ihrer Haut, da sie mit den perfekten Pornodarstellerinnen mithalten müssten und Männer fänden den normalen, unpornographischen Sex nicht mehr aufregend.

Was aber macht denn die Pornographie tatsächlich mit uns? Macht sie aggressiv oder lustlos? Oder geht sie spurlos an uns vorbei?
Als ich mein erstes Pornoheft gesehen habe, war ich etwa elf Jahre alt. Mein bester Freund Jörg und ich kamen aus der Schule, als wir auf dem Bürgersteig einen braunen Umschlag liegen sahen.
Wenn etwas Großes im Leben passiert, weiß man oft nachher nicht, wie es genau dazu gekommen ist. Welcher untrügliche Instinkt uns also nach dem Umschlag greifen und ihn öffnen ließ – ich kann es nicht sagen. Wir zogen ein Heft heraus, dunkel meine ich mich zu erinnern, dass einige Seiten verklebt waren, aber das nahmen wir nicht recht wahr, denn auf dem Titel war eine Frau mit blondiertem Bürstenhaarschnitt. Und einem Penis im Mund. Wenn in diesem Umschlag ein detaillierter Plan für einen atomaren Erstschlag der Warschauer Pakt-Staaten gewesen wäre, unsere Reaktion wäre bedeutend nüchterner ausgefallen. Hastig schoben wir den Gral in den Umschlag zurück.
Ich muss an dieser Stelle vielleicht kurz ausholen. Seit ungefähr einem Jahr onanierten wir wie die Weltmeister. Wir waren in unserer Vorstellung die einzigen Menschen, die so etwas komplett Irrsinniges machten. Und um Gottes Willen durfte niemand davon wissen.
Es gab, das muss ich vielleicht den Jüngeren unter den Lesern erklären, in den Achtzigern zwei Eigenschaften, die man nicht haben durfte, um als guter Mensch durchzugehen: Man durfte kein Mann und man durfte kein Deutscher sein. Nicht in dem Umfeld, aus dem wir stammten. Männer, das waren halbwilde Vergewaltiger und Deutsche, naja: zwei Jahre nach meiner Geburt lief die amerikanische Seifenoper Holocaust und man war noch nie so radikal verschämt wie zu diesem Zeitpunkt. Es mag wiederum möglich sein, dass Jörg und ich die Einzigen waren, die der Schuldkomplex so dermaßen gründlich erfasst hatte – man konnte eben schlecht andere Jungs fragen, wie das bei ihnen so war.
Im Nachhinein halte ich es darüber hinaus für möglich, dass meinen Eltern mein neues Toilettenverhalten nicht verborgen geblieben war. Vielleicht dachten sie aber auch, ich hätte eine unheilbare Darmkrankheit und hielten es für besser, ich machte dies mit mir selber aus.
In einem Urlaub hatte ich einmal ein knapp dreißigsekündiges Gespräch mit meiner Mutter über Masturbation. „Früher glaubte man ja, davon werde man blind, aber das denke ich eigentlich nicht“, sagte meine Mutter. Dieser Satz fasst meine komplette Sexualaufklärung zusammen. Vermutlich werde ich davon nicht blind, dachte ich also, wenn ich mit fliegenden Fingern John Updikes „Ehepaare“, das im Bücherregal meiner Eltern ganz weit oben stand und das ich unter Inkaufnahme der Gefahr eines Genickbruchs auf Zehenspitzen balancierend entwendet hatte, nach den „Stellen“ durchblätterte. „Blaugeäderte, schwere Brüste“ stand da und „behaarte Leisten“ dort. Beinahe wäre ich tatsächlich blind geworden. Und erst der Band „Vier erotische Geschichten“ von Roald Dahl! Ich kam gar nicht mehr von der Toilette herunter.
Es lässt sich also ermessen, was dieses Heft für uns bedeutete.
Eilig verstaute Jörg es in seinem Ranzen, wir hasteten an meiner Mutter vorbei, murmelten etwas von Hausaufgaben und stürzten in mein Zimmer.
Die Frau vom Titelbild hatte im Inneren des Heftes tatsächlich Sperma im Gesicht.
Im Gesicht! SPERMA!
Nachdem wir fertig waren, wurde uns klar, dass dieses Heft zu explosiv war, als dass wir es hätten behalten können. Wir entsorgten es also auf dem Dach einer Garage und ich kehrte wieder zu Roald Dahl zurück.
Wenige Jahre später hatten wir dann Privatfernsehen. RTL und Sat1 verfügten über ein ansehnliches Reservoir an Softpornos aus den Siebzigern, von der unendlichen Schulmädchen-Report-Reihe über die Lass jucken, Kumpel-Sozialdramen bis zu den weichgezeichneten Filmen von David Hamilton. Stets vor dem Fernseher: Jörg und ich. (Einmal glaubte ich sogar, das Prinzip der Länderpunkte bei Tutti Frutti begriffen zu haben.)
Erstaunlich häufig begegne ich Frauen, die sich besorgt fragen, ob nun eine ganze Generation von Männern heranwächst, die davon ausgeht, das größte Vergnügen, das man einer Frau bereiten könne, sei, ihr eine möglichst gewaltige Menge Sperma ins Gesicht zu ejakulieren. Nun, da könnte etwas dran sein. Andererseits: Wer wäre nicht vor seinem ersten Sex Fehlinterpretationen und Mythen aufgesessen?
So vergleichsweise harmlos die Filme waren, die ich gemeinsam mit Jörg sah, auch sie hatten durchaus einen Effekt.
Wir fanden nicht auf einmal die Mädchen aus unserer Klasse weniger schön und wir bekamen auch keine Komplexe – Penisse waren schließlich im Fernsehen nicht zu sehen. Aber als ich gegen jede Wahrscheinlichkeit meine erste feste Freundin hatte, war ich wahnsinnig irritiert, wie wenig erregt sie durch meine Bemühungen war.
Die Frauen in den RTL-Filmen stöhnten bereits ekstatisch, wenn sie selber oder jemand anderes ihre Brüste berührten; meine Freundin ließ sich selbst durch kräftiges Kneten nicht im Geringsten beeindrucken. Das kann das Selbstbewusstsein eines Pubertierenden ganz schön ins Wanken bringen.
Selbst wenn man als Sechzehnjähriger über ein wenig Abstraktionsvermögen verfügt, glaubt man nicht dennoch, dass elementare Grundfunktionen, die in den Erotikstreifen gezeigt werden, so vor sich gehen sollten wie dargestellt? Was ein Junge heute wohl für Schlüsse zieht, wenn er einen Waterboarding-Porno gesehen hat? Aber Kinder sind heute zum Glück nicht mehr so torfnasig im Umgang mit Medien wie wir früher.
Claras Tochter Luise ist ein reizendes Kind und rätselhaft wie jede Pubertierende, nur anders. Sie hat einen stählernen Willen, was ihre Karrierepläne angeht. Sie ist divenhaft und lammfromm, manchmal sieht sie aus wie Lady GaGa und zitiert KIZ, kichert aber verschämt, wenn sie in einem Text von mir das Wort „ficken“ liest. „Weil das echt ist, KIZ ist doch nur Spaß.“ Luise hat einen Sinn für die Unterscheidung von Spaß und Ernst, Fake und Echtheit, Spiel und Wirklichkeit, wie ihn meine Generation erst in germanistischen Proseminaren lernen musste. Pornographie ist Spiel, Halo 3 ist Spiel, aber der Junge aus ihrer Klasse, der das Gesamtwerk Sasha Greys mit den Händen nachkneten kann, und der in der Schule rote Ohren bekommt, wenn sie ihn etwas fragt, der ist real.
Luise betrachtet das angebliche Treiben ihrer Altersgenossen mit demselben Insektenforscherblick wie alle anderen. Niemand aus ihrer Klasse hatte schon Sex, der Berliner Straßenstrich ist nicht das Stilvorbild, von ihr kursieren keine Nacktbilder im Netz. Ihre immer schon etwas altklugen Kommentare gehen jetzt manchmal ins Nassforsche, aber das ist schon die dramatischste Erscheinung.
Sie ist in keiner Hinsicht verdorbener als wir in ihrem Alter und wenn man sie so sieht, muss man dem Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann recht geben, wenn er sagt: „Die Generation Porno ist ein Schreckgespenst. Das kann man schon nicht mehr in Prozenten ausdrücken – es sind Promilleanteile eines Jahrgangs, bei denen es, wie wir das sagen, zu riskantem Sexualverhalten kommt. Die Zahl ist seit Jahren gleich.“

Die Studie Youth, Gender and Pornography in the Nordic Countries des Nordic Gender Institute kam zu dem Ergebnis, dass Jugendliche ganz deutlich zwischen der Realität und Pornographie unterscheiden. Sie seien dazu auch durchaus kritisch, was die Pornodarsteller angehe. Diese werden nicht etwa als Vorbilder oder Stars gesehen. Sowohl Jungen als auch Mädchen betrachten sie als billig und lächerlich.
Sie geben an, dass die Darstellerinnen schöne Körper und die Darsteller große Penisse haben, aber sie wissen, dass sie eben nach diesen Kriterien gecastet wurden.
„Jugendliche sehen sich Pornografie also meist im vollen Bewusstsein ihrer Künstlichkeit an“, fasst der Kommunikationswissenschaftler Mathias Weber in dem Aufsatz „Die Nutzung von Pornographie unter deutschen Jugendlichen“ eine Untersuchung der Universität Mainz zusammen. „Dabei nutzen Jugendliche sexuell explizite Medien in der Regel wissend, dass diese keine übliche Sexualität abbilden. Sie nutzen diese scheinbar auch, ohne dass sich ihre Vorstellung von Beziehung und Sexualität hierdurch wesentlich verändert.“
Und wären Sie etwa gerne Pornodarsteller? Wohl kaum. Aber warum sollten andere dann so sein wollen?
Wenn Naomi Wolf glaubt, Frauen fühlten sich unvollkommen neben den Pornodarstellerinnen, dann redet sie nicht von sich. Sie kann Pornos sehen und immer noch stark und selbstbewusst sein, aber andere, die schwächer sind als sie, die werden beeinflusst sein.
Die Sozialpsychologie nennt diesen Gedanken, jemand anderes sei durch Medien stärker beeinflusst als man selber, den Third-Person-Effekt. Der Journalist Edwin Diamond wies in „Good News, Bad News“ nach, dass die Wahrnehmungsverzerrung des Third-Person-Effekts gerade bei Experten besonders ausgeprägt sei.
96 Prozent der Frauen (Neon-Umfrage unter 390 Zwanzig- bis Fünfunddreißigjährigen) sehen ihr Sexualleben durch Pornos positiv beeinflusst, „weil ich Anregungen bekommen habe“, 19 Prozent, „weil ich dort das bekomme, was ich selbst nicht erlebe“, nur 2 Prozent negativ, weil ihre „Erwartungen jetzt zu hoch“ sind.
83 Prozent fühlen sich von sexuellen Darstellungen in den Medien nicht unter Druck gesetzt, ihren eigenen Sex zu ändern.
Ich habe noch nie eine Frau sagen hören: „Gina Wild ist so hübsch und kann dreißig Zentimeter lange Penisse von allen Seiten in sich aufnehmen – mit diesen Eigenschaften wäre ich auch gerne ausgestattet.“ Wie wir gesehen haben denken nicht einmal Teenager so. Naomi Wolf möchte auch nicht mit Gina Wild tauschen. Wer also? Wohl kaum jemand. Außer eben denen, die dann wirklich eine Pornokarriere anstreben.

Wenn wir nicht bewusst beeinflusst werden, können wir dann nicht trotzdem durch die totale Reizüberflutung abgestumpft sein?
Nicht die Menschen spielen beim Sex den Porno nach, der Porno spielt den Menschen beim Sex. Und das gelingt ihm nicht besonders gut. Pornographie bildet keinen Sex ab, sondern nur einen Teilbereich. Porno kann weder Spannung aufbauen, noch Entspannung zeigen, der Regisseur eines Spielfilms kann zwar die Erotik und das postorgasmische Chillen in Szene setzen, muss aber die Penetration schamvoll mit einem Laken verhüllen, ein Porno beginnt üblicherweise mit einem Penis in einem Mund und endet mit Sperma an prominenter Stelle. Selbst bei einem Liebespaar, das sich filmt, verändert die Kamera das Geschehen. Echte Leidenschaft, Zärtlichkeit oder gar Auflösung und Verschmelzung lässt die Anwesenheit des mechanischen Beobachters nicht zu – die Kamera ist für den Geschlechtsverkehr das, was das Messgerät in der Heisenbergschen Unschärferelation für das Quantenobjekt ist.
Unter Reizüberflutung mag der Pascha in einem Harem leiden, Pornographie liefert gar nicht genug Reize, weil es ihr an so vielem fehlt, was Sex ausmacht. Drei von fünf Sinnen werden nicht angesprochen. Egal wie viele Unterwäschemodelle man auf dem Weg zur U-Bahn gesehen hat, schon eine flüchtige Berührung bietet einen neuen Kosmos an Reizen, mit dem die virtuelle Ersatzrealität nicht mithalten kann.

Der Text ist ein Auszug aus Frauen und Männer passen nicht zusammen – Auch nicht in der Mitte Das Copyright liegt bei der Piper Verlag GmbH.

3 comments

  1. Schade, dass es nur aus einem Buch zitiert ist.

    Nichtsdestotrotz gern gelesen. Die Geschichte hat einen gewissen Wiedererkennungswert. :-)

  2. Ich wollte den Kommentar hier hin packen, aber es ist dann etwas lang geworden.
    Der Beitrag ist sehr gut geschrieben, aber es bleibt der Eindruck, dass du ein paar schwierige Punkte recht oberflächlich übergehst.

    Vielleicht hast du Lust zumindest auf die ersten beiden Punkte kurz einzugehen, ich habe das hier (http://wp.me/paYol-YV) gepostet.

    ta-ta
    E.

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