Allgemein


10
Jun 10

Längliches zur WM. In Kurzpassform.

Zwei Personalentscheidungen sind in den vergangenen Monaten mit größerer Leidenschaft diskutiert worden als die Debatten um Präsidentenamt, Sparpaket und Euro-Krise zusammen: Darf Kevin Kuranyi mit nach Südafrika und wer hütet das deutsche Tor? Es könnte kein deutlicheres Zeichen für die Totalboulevardisierung des Fußballs geben. Nicht die allgegenwärtigen WM-Brötchen, nicht die Beflaggung Kreuzberger Balkone, nicht einmal die zu erwartenden Hupkonzerte sind ein Problem, denn sie berühren nicht den Kernbereich des Fußballs. Das Problem ist, dass in diesem Kernbereich ein Vakuum herrscht. Das geistige Gefälle zwischen den Veröffentlichungen zum Turnier und tatsächlichem Durchblick ist in etwa so groß wie das zwischen dem Freak, der sich CDs mit Original Motorenlärm kauft, und einem Ingenieur bei Daimler.
Die deutsche Mannschaft hat nun schon seit Jahren einige Probleme, die nicht abzustellen scheinen:
1. Sie kann nicht mit einer Führung umgehen. Regelmäßig verliert das Team den Faden, wenn es das erste Tor geschossen hat. Weiterspielen oder halten, abwarten und auf Konter verlegen? Man kann es nicht sagen. Heraus kommt dann etwas wie bei den Qualifikationsspielen gegen Russland – die Mannschaft steht viel zu tief, es kommt zu Chancen im Minutentakt und das Ganze wird zum Glücksspiel.
2. Sie hat Probleme in der Balleroberung. Selbst zweitklassige Gegner können sich seelenruhig den Ball hin- und herschieben, sie werden dabei durchaus wohlwollend begleitet, von Bedrängen kann jedoch keine Rede sein.
3. Sie kann keine Standards.
4. Sie ist nicht eingespielt. Die Vorrunde der Bundesliga-Saison 2008/2009 hat am Beispiel von Hoffenheim gezeigt, was man mit unerfahrenen Spielern erreichen kann, wenn man sie über einen längeren Zeitraum als Team entwickelt. Aus einem ordentlichen Zweitliga-Team wurde für ein halbes Jahr eine Spitzenmannschaft. Löw hat auf diese Möglichkeit zugunsten einer nicht enden wollenden Konkurrenzsituation verzichtet. Nun hat man unerfahrene Spieler, die nicht einmal die Laufwege ihrer Nebenleute kennen.
5. Die Seite, auf der Lahm nicht spielt, ist nicht von einem Fachmann besetzt. Aber man kann ihn halt nicht klonen.

Das sind gravierende Probleme, die die Titelkandidaten nicht haben. Diese Punkte sind tatsächlich ein Thema, aber stattdessen lässt man lieber darüber abstimmen, ob ein Mittelstürmer, der zwar in guter Form ist, dessen Position aber von drei Spielern besser besetzt wird, mitgenommen werden soll.
Ebenso verhält es sich mit der Torwartposition: Statt sich frühzeitig für einen zu entscheiden und so die Möglichkeit zu geben, sich mit der Abwehr (die wiederum auch noch nicht feststeht) einzuspielen, hat man so getan, als hätte die Entscheidung zwischen Adler, Neuer, Wiese und Butt auch nur die geringste Bedeutung. Wäre das Gesicht des Torwarts gepixelt, keine zehn Leute in Deutschland könnten sagen, wer da gerade spielt. Alle vier sind gute Torhüter, wären sie Weltklasse, dann würden sie mehr Geld verdienen bei größeren Vereinen.

Was die Beurteilung der Qualität der einzelnen Spieler angeht: Auch da ist Fußballdeutschland ganz Boulevard. Jeder Spieler ist so gut wie sein letztes Spiel. Und wenn jemand wie Mario Gomez gleich ein ganzes Turnier versemmelt, dann kann er halt einpacken. Seitdem ich mich mit Fußball beschäftige, habe ich nicht eine solche Feindseligkeit gegenüber einem Spieler der eigenen Mannschaft erlebt (ausgenommen natürlich im Fall von Mario Balotelli bei Inter Mailand). Mario Gomez hat seine gesamte Karriere durch eine Trefferquote von 50% (122 Tore in 244 Spielen), er hat dabei gegen starke Gegner genauso getroffen (vier Tore in sieben Spielen gegen München, sieben in elf gegen Bremen) wie gegen schwache, also in der Regel tief stehende, er hat schon mit Stuttgart in der Champions-League Tore erzielt und in 14 Europa League-Spielen acht Mal getroffen. Selbst in einer Saison, in der es für ihn nicht lief, hat er zehn Tore geschossen. Lukas Podolski dagegen kommt bei einer vergleichbaren Anzahl von Spielen (226) auf gerade einmal 80 Treffer. Davon hat er 24 in seiner Zweitligasaison erzielt.
Aber Podolski ist ein Spieler eigener Art, seine Formamplitude schlägt noch heftiger aus als die von Miroslav Klose, weshalb er sich einer streng faktenorientierten Bewertung entzieht. Er ist eher ein linksfüßiges Maskottchen als ein klassischer Flügelstürmer, aber in einem Sport, der seine Marotten pflegt und in dem die meisten Spieler obskure Rituale vollziehen, um das Karma zu besänftigen, unverzichtbar. Aber wie unverzichtbar müsste da erst Gomez sein?

Ehe ich mich hier in Spielerdetails verliere: Wohl noch nie hat eine deutsche Mannschaft so viele technisch begabte Spieler bei einem Turnier gehabt. Beckenbauer wurde mit sechs Vorstoppern Weltmeister, der herausragende Spieler der Europameistermannschaft von 1996 war Dieter Eilts, nun zaubern Özil, Marin, Schweinsteiger, Khedira und Lahm. Das kann eigentlich gar nicht gut gehen, aber ich hatte selten so viel Freude an einer deutschen Mannschaft wie an den U21-Europameistern vom vergangenen Jahr. Das Team musste in Ermangelung begabten Sturmnachwuchses ohne Stürmer antreten, also nicht einmal einen kleinen Kevin durften sie mitnehmen. Sie hatten auch keinen Effenberg, keinen Frings und auch sonst keinen, der sie auf dem Platz zusammengebrüllt hat. Aber sie hatten eine klare Idee von technisch ausgereiftem Defensivfußball, der so skrupellos durchgezogen wurde, als spiele da Inter Mailand.
Das hat nichts mit dem taktisch zwittrigen Fußball des WM-Kaders zu tun, der daherkommt wie der FC Barcelona aber hinten doch nur Werder Bremen ist mit einer Prise Hertha, aber doch war dieses Team ein Versprechen. Man kann als Trainer nicht in die Vergangenheit reisen und selber für Nachwuchs sorgen, deshalb kann man Löw im Großen und Ganzen keinen Vorwurf machen. Er betreibt Mangelverwaltung, es blieb schon 2006 keine Zeit für das Standardtraining, weil das Team elementare Mängel in so vielen Bereichen hatte, dass man sich darauf konzentrieren musste. Angesichts der Spielerauswahl hat er grandiose Erfolge erzielt und das, obwohl die allermeisten Spiele fürchterlich waren. Wenn überhaupt, dann war immer nur eine Halbzeit gut, das letzte Mal neunzig Minuten überzeugt hat eine deutsche Mannschaft vermutlich bei der WM 1990 und selbst da wurde seit dem Achtelfinale kein Tor mehr aus dem Spiel heraus erzielt.
Erfreulicherweise muss man nicht gut spielen, um Weltmeister zu werden. Man muss nicht einmal ein einziges Spiel gewinnen, es reichen theoretisch drei Unentschieden in der Vorrunde und ansonsten gute Nerven beim Elfmeterschießen. Und da mache ich mir keine Sorgen.


7
Jun 10

Christian Wulff


Bild von Frauenfuss

Man kann vieles über Christian Wulff sagen: Dass man ihn nicht einmal wählen würde, wenn er als Milchbrötchen unter anderen Milchbrötchen beim Bäcker ausläge, weil die anderen Milchbrötchen alle irgendwie kerniger aussehen, dass er Familienwerte predigt und dann mit einer Frau durchbrennt, die gerade einmal so alt ist wie ich, also praktisch minderjährig ist, dass er zu der schlimmsten Sorte der Machtbesessenen zählt, nämlich der, die so tut, als sei sie nicht an Macht interessiert, dass er das Blindengeld gestrichen hat und die Bildungsausgaben gekürzt, dass er sowieso nicht nach Berlin will, weil das hieße “jedes Leben aufzugeben, jede Normalität, jede Privatheit”.
So Nebensächlichkeiten halt. Aber Folgendes ist tatsächlich beunruhigend:
Christian Wulff hatte als Jugendlicher ein Poster von Helmut Kohl in seinem Zimmer hängen.

Fakten aus der ZEIT

Mein Beitrag zu Wahlkampf für Gauck.


21
Jul 09

Frau Schnutinger hört auf mit dem Web 2.0

Vermutlich unter anderem wegen dieses Beitrags von Felix Schwenzel zieht sich Frau Schnutinger jetzt aus dem Web 2.0 zurück.

Es wird oft darüber spekuliert, warum Frauen im Web 2.0 so wenig wahrgenommen werden. den erhellendsten Artikel habe ich dazu bei Teresa gelesen:

“Das Internet einfach als weiteren Kommunikationskanal zu nutzen – dieser Pragmatismus ist ein weiterer Hinweis darauf, warum bislang weniger Frauen durch die Nutzung des Netzes zu einer öffentlichen Person geworden sind. Mit großer Selbstverständlichkeit wurde das Netz als Ort begrüßt, an dem bestehende Themen eine weitere Verbreitung finden können. Expertinnen existierten bereits. Das erste neue Expertisefeld, das sich durch das Internet eröffnete, war das Internet selbst. Die zunächst überwiegend technischen Aspekte erklären vielleicht, warum Netzthemen eher von Männern besetzt werden. Originär im Netz entstehende weibliche Wissensgebiete formieren sich langsam, unterliegen aber dem gleichen Problem, das „Frauenthemen“ in klassischen Medien haben: über ihre Relevanz wird in der breiten Öffentlichkeit nicht von Frauen bestimmt, und sie wurzeln eher in der privaten Lebenswelt.”

Das ist ein wichtiger Punkt: Gehen wir für einen Moment davon aus, Frauen und Männer seien unterschiedlich, nicht Mars/Venus-unterschiedlich, aber ein wenig. Und dann bauen wir uns eine Welt, in der es zur Allgemeinbildung gehört, Schlachtendaten zu kennen und im Schlaf zu wissen, wer Deutschland 1974 zur Weltmeisterschaft schoss.
Wären Männer und Frauen unterschiedlich, dann wäre das etwas ungerecht.

Nach meiner persönlichen Erfahrung haben Frauen darüber hinaus auch eine etwas geringere Neigung, sich anpöbeln zu lassen. Ich bekomme häufiger Mails von Leserinnen, die nicht einmal Freude daran haben, sich in den Kommentaren beschimpfen zu lassen.

Ich argumentiere hier auf dünnem Eis und ich darf natürlich nicht vergessen hinzuzufügen, dass es wehrhafte Frauen gibt, gegen die ich noch beinahe jede Kommentarschlacht verloren habe und auch meine Mutter war eine Meisterin des letzten Wortes. Aber zurück zum Thema.

Frau Schnutinger hat also einen etwas unglücklichen PR-Beitrag verfasst für Vodafone. So etwas ist mir auch schon passiert. Ich weiß nicht, wann die Schweigepflicht für persönliche Job-Desaster abläuft, deshalb drücke ich mich im Folgenden so vorsichtig wie möglich aus.

Ich habe einige Wochen für die Wii gebloggt. Irgendwann hat dann Robert Basic dieses Blog aufgespießt wegen seiner grauenhaften PR-Texte. Ich wage mich hoffentlich nicht in den Bereich der Vertragsverletzung, wenn ich sage:
Robert Basic hat sich noch höflich zurückgehalten. Ich aber habe zurückgeholzt und schön weiter PR-Texte verfasst.

Frau Schnutinger jedoch hat versucht, zu erklären, was sie da macht (alles nachzulesen in den Kommentaren zum oben verlinkten Artikel von Felix Schwenzel). Dafür wurde sie – nunja, auf dem Schulhof würde man sagen: gemobbt.

Ich hoffe, dass Frau Schnutinger es sich noch einmal überlegt. Der Zorn der politisch interessierten Blogger richtet sich gegen Vodafone und trifft Randfiguren einer Kampagne. Und auch wenn ich Schlammschlachten liebe und seit meinem dritten Lebensjahr trainiert darin bin, Gegnern Sand in die Augen zu streuen (Reineke Fuchs!), habe ich es nicht gelernt, Lynchmobs zu schätzen.

So sind wir doch eigentlich gar nicht.


24
Jun 09

Wir sind hier nicht in Seattle, Nerd

Wenn Ihre verzweigte Analyse von Brechts Galilei oder Ihr kubistisches Frühwerk «Der Weihnachtsstern über Bethlehem» bewertet wurde – fanden Sie dann nicht auch, dass die Schulnoten ein zu grobes Raster darstellen, als dass die Tiefe Ihrer Gedanken angemessen gewürdigt werden könnte?
(…)
Auch eine Lehrerin aus Moers, die auf dem Schülerportal Spickmich.de eine Durchschnittsnote von 4,3 erhielt, muss sich gedacht haben: Das sind doch keine Pädagogen, was erlauben Hinz und Kunz?

Weiter in der Netzeitung


22
Jun 09

Feed und Theme

Ihr müsst den Feed neu abonnieren. Fragt mich nicht nach Details, aber irgendetwas stimmte (außer der Optik) nicht mehr mit dem alten Theme, deshalb hat Mathias mir hier etwas Neues gebastelt.
Wer etwas einzuwenden hat, der möge jetzt etwas sagen – oder für immer schweigen.


26
Mai 09

Hat teAM Deutschland imaginäre Freunde?

UPDATE:
Die CDU reagiert. Und setzt meinen Namen in Gänsefüßchen.
“Kommentieren ist nur für Mitglieder erlaubt.”

cdu1

Vollansicht des Screenshots

teAM Deutschland, das Kampagnenportal der CDU, feiert den Anstieg seiner Mitgliedszahlen.

Durchstöbert man allerdings die Mitgliederlisten, sticht ins Auge, dass sich dort eine ganze Reihe Zombies tummeln (siehe Bild).

Hat die CDU also Unterstützer erfunden und war sogar zu faul, sich Namen für die imaginären Freunde auszudenken?

Ganz und gar nicht, twittert Malte Steckmeister, Vorsitzender der CDU-Fraktion im Gemeinderat von Delingsdorf:

antwort

Moment: Die CDU baut ihr Online-Netzwerk auf, indem sie Profile anlegt für Nutzer, die per Postkarte ihre Unterstützung signalisiert haben, denen es aber unangenehm ist, mit ihrem Namen dafür gerade zu stehen?
Und denen gerade nicht daran gelegen ist, sich mit anderen CDUlern zu vernetzen?

Als Fälscher hätte man die CDU vielleicht eher ernst nehmen können.


27
Apr 09

Meine Mutter wird neuer Trainer des FC Bayern München

Presseberichten zufolge wird meine Mutter neuer Trainer in München.
Wie schon bei ihren Engagements in Duisburg, Madrid und Dingenskirchen wird sie darauf bestehen “Trainer!” genannt zu werden, denn die weibliche in-Endung empfindet sie als verniedlichende Kuschelei. Unvergessen, wie sie Rolf Töpperwien in der Saison 85/86 nach dem verlorenen Spiel gegen Bayer Uerdingen einen Kinnhaken verpasste, als er ihr die Tür aufhielt.
Meine Mutter ist ein sogenannter harter Hund, verfügt jedoch nicht über einen sogenannten weichen Kern.
Wer erinnert sich nicht mit einem sanften Schauder der Nostalgie, wie sie nach der Winterpause 77/78 Klaus Fischer eigenbeinig aus dem Strafraum grätschte, als der den Anschlusstreffer auf dem Schlappen hatte.
Sie musste damals acht Spieltage auf der Tribüne verbringen und verfasste in dieser Zeit ihre Memoiren unter dem Titel “Stalingrad”.
Nach der Wende 89/90 zog sie sich aus der Bundesliga zurück. Nie abreißende Gerüchte über Stasi-Verstrickungen verfolgten sie bis nach Lissabon und Istanbul, wo sie nach ihren 9 deutschen Meistertiteln ebenfalls große Erfolge feierte.
Dass sie nun ausgerechnet in München anheuert, dem Ort, von dem aus Mitte der 90er die zu ihrem Rauswurf bei Barcelona führenden Glenbuterol-Gerüchte gestreut worden waren, erstaunt die Fachwelt.
Von Spielschulden ist die Rede, aber ich kenne meine Mutter. Ihr Leitsatz “Stahl wird nicht alt, Stahl wird an der Spitze breiter. Und darum geht es doch” war sozusagen mein Wiegenlied.
Assistenztrainer wird übrigens Hänschen Rosenthal, der einzige Mann, über den meine Mutter lachen kann.


28
Mrz 09

Galgenmännchen-WordPress-Plugin

galgen

Bei uiuiuiuiuiuiui könnt Ihr ein Galgenmännchen-Wordpress-Plugin runterladen. Um im Blog Galgenmännchen zu spielen. Only in the Internet, only in the Internet.


23
Mrz 09

Eine Vorzeige-Schule

Ich habe in der vergangenen Woche einer Leserin, die gerade Abitur macht, im Chat erzählt, dass eine Freundin von mir Ende der 90er ein Erdkunde-Buch hatte, in dem es die UdSSR noch gab.
Darüber konnte die angehende Abiturientin nur müde lächeln. Ihr Bio-Buch ist von 1971.
Ich habe sie daraufhin gebeten, mir etwas ausführlicher aufzuschreiben, wie es in ihrer Schule zugeht.
Wir reden hier nicht von einem sozialen Brennpunkt, die Schule befindet sich in einem beschaulichen Ort in Hessen. Es gibt Eigenheiten an dieser Schule, besonders der Umstand, dass das Schulorchester bei der Mittelvergabe bevorzugt wird, dürfte ungewöhnlich sein. Anderes erinnert mich nur zu sehr an meine eigene Schulzeit. So viele Bildungsinitiativen kann es bei Christiansen und Will, bei Kerner und Maischberger gar nicht geben, dass das Geld tatsächlich in den Schulen ankäme.
(Bevor jemand fragt: In Ermangelung von Alternativen muss die Autorin des folgenden Textes auf dieser Schule bleiben.) Continue reading →


16
Mrz 09

Mit einer gewissen Zuverlässigkeit werden Leser aggressiv, wenn ich schreibe, dass wir in der friedlichsten aller Zeiten leben. So etwas zu sagen angesichts von zertrümmerten Rentnerschädeln auf Bahnsteigen. Von cracksüchtigen Raubhuren. Von Amokläufern. Von Terror, Kosovo, Ruanda, Kongo.

Aber so ist es nun einmal: Der Amokläufer ist der Naturzustand, die Zivilisation ist der Friede.
Meine Lieblingslektorin sagt, das könne nicht sein, im Urzustand habe sich Gewalt doch gegen den gerichtet, der einem etwas angetan hat und nicht gegen eine unbestimmte Menge Mensch.
Hier habe ich schon darauf hingewiesen, dass Schimpansen keine Vergeltung üben.
Gleichzeitig ist bekannt, dass das biblische Auge um Auge ein Übermaßverbot war. Weil die Neigung bestand, für erlittenes Unrecht ganze Dörfer abzubrennen.

Und eben nicht nur für tatsächlich erlittenes, zurechenbares Unrecht. Der Mord war immer auch magische Handlung. Noch die fotografierenswertesten Amazonas-Indianer töten für ein plötzlich verstorbenes Haus-Warzenschwein eine Nachbarsippe. Sie könnte ja einen bösen Zauber über das Schwein gebracht haben.

Karma-Polizisten in entlegenen Gebieten ermitteln nicht Fingerabdrücke, sie fragen das örtliche Orakel oder eine befreundete Autopsie-Hexe und statt der Strafprozess-Ordnung kommen Macheten zum Einsatz.

Der archaische Mörder in uns, der die Schuld für sein Elend verortet in einem unbestimmten Anderen, in der Gesellschaft, im Nachbarn, in der CIA oder Wolfgang Schäuble, der war immer schon da.
Er wird gebannt durch Erziehung, Aufklärung, wird aber nie verschwinden.
Der Mörder ist das, was wir kennen.
Der Mörder ist das Uninteressanteste an Winnenden.

Was bleibt, wenn der atavistische Amok einen Ort heimsucht, wie man lebt nach dem Zivisilationsriss – das bedarf unserer Aufmerksamkeit, unseres vorsichtigen Wegschauens und unseres schamvollen Schweigens.
Denn Gegen das Geschrei haben die Götter das Tabu gesetzt.
Obwohl sie nichts von Nachahmungstätern wussten.
Götter halt.