08
Nov 13

Eine gefälschte Liebe

Jakob war mit einer Frau zusammen, die es so nicht gibt. Für das SZ Magazin habe ich die Geschichte erzählt. Und obwohl ich mich bemüht habe, zu erklären, wie das geschehen konnte, wie es ihm gelang, auf sie hereinzufallen, was sie dazu trieb, die Geschichte immer weiter zu spinnen, ist es spannend, hier etwas mehr ins Detail zu gehen.
Die erste Frage ist natürlich, warum die beiden nicht etwa einfach geskypet haben. Da behalf sich Louisa meist schlicht mit Ausreden. Kamera kaputt, zu müde, sieht gerade nicht so gut aus, sie versteht das neue Gerät noch nicht.

Beim Lesen der Messages, die die beiden sich geschrieben haben, gibt es immer wieder Stellen, an denen man denkt: Jetzt muss Jakob es doch merken. Etwa als Louisa ihm erzählt, sie käme mit ihrem neuen iPad noch nicht zurecht, das alte sei in New York fünf Stockwerke heruntergefallen, deshalb habe sie es umtauschen müssen.

ist mir in ny aus der hand gerutscht und etwa 5 stockwerke durch treppenhaus gerauscht….
ich hörte immer klong, kong, klong… hahahaha

Wie zum Teufel soll ein Gerät auf die Weise fallen?

Jakob, der sich mit allem, was mit Technik zu tun hat, gut auskennt, weiß darüber hinaus sogar, dass Apple keine auf diese Art beschädigten Geräte umtauscht. „Das geht nicht sowas und ging noch nie!“, schreibt er.

Worauf sie antwortet:

und wie erklärst du dann, dass ich jetzt ein neues habe, nichts bezahlt habe und statt schwarz weiß?
also, eingeschweißt war das nicht, sondern irgendein überholtes… aber optisch halt neu warum sollte ich dir denn jetzt quatsch erzählen?

Tja. Warum sollte sie so einen Quatsch erzählen? Ich denke, dass diese Frage im Text hinreichend beantwortet wird. Was man gedruckt gar nicht recht darstellen kann, ist der ungeheure Aufwand, den die Fakerin betrieben hat. Sie stellte sich Jakob als äußerst generös dar, weshalb sie eine Charity erfand. Sie sagte aber nicht einfach “Übrigens, ich habe eine Charity, aber lass mich darüber nicht zu viele Worte verlieren. Sie schrieb beispielsweise diese Mail, in der sie die Gründungsgeschichte ihrer Charity erzählte.

Weihnachts-Charity

Alles fing an einem waaaaahnsinig langweiligen, trostlosen Tag in London an.
Samstag, 6. Dezember 2008.
Nikolaustag!
Kurz vor die Wohnungstür geschaut… Ok, der kleine Bruder hat vergessen meinen Stiefel mit Leckereien zu bestücken, von einem kleinen Geschenk sprechen wir mal lieber gar nicht. Ich könnte schwören, Mami hat ihm noch ‘ne Sms geschickt. Wieso bin ich gestern Nacht noch einmal um den Hyde Park gefahren, um ihm ein Geschenk vor die Tür zu stellen?! Ok, bei ihm stand kein Schuh… Trotzdem bin ich wohl die große, brave Schwester.

Ein Blick aus dem Fenster. Schöne weiße Stadtvillen, wohin man sieht… Es hilft nicht, um mich zu erheitern. Nebel… Hier und da etwas Schneematsch am Straßenrand. Dunkle Bäume… unheimlich. Überhaupt ist alles düster. Es ist 10 Uhr und es sieht schon wieder aus wie 18 Uhr. Total trostlos!

Shoppen? Fällt aus, ich hab alles!

Anja anrufen! Werde angemault, es wäre bei ihr 5 Uhr morgens! Okok… Hab nicht an die Zeitverschiebung zu NY gedacht. Neige vor Langeweile schon wieder dazu, meine guten Vorsätze für 2009 (wurde im Laufe der Zeit auf 2013 vertagt!) “Ich werde nicht mehr so planlos und chaotisch sein” über Bord zu werfen. Wie gut, dass ich noch ein paar Tage Zeit habe bis 2009, die endlos lange Liste am Kühlschrank auswendig zu lernen!

Sara anrufen. Zürich 11 Uhr!
“Was fällt Dir ein, am Samstag so früh anzurufen?! Ich hatte gestern Weihnachtsfeier!” Tut… Tut… Tut…
Jaja, ist ja gut… Wieder der gleiche Fehler! Nicht nachgedacht…

Hmmm?! Daniel an den vergessenen Nikolaus erinnern? Nö, noch so ein kurzes Gespräch? Kein Bock drauf.
Werde jetzt langsam schlauer und mein Gehirn kommt, nach anfänglichen Startschwierigkeiten am Morgen, auf Trab.

Wahnsinn! Ich kann mit Urlaub einfach nichts anfangen. Bis zum 12. Januar 2009. Zwangsurlaub! Vom Chef angeordnet, weil ich soviel gearbeitet habe. Erst am 20. Dezember geht’s zu Opa in die italienischen Berge. Lange Zeit noch. Was nun? Jetzt schon mal Koffer packen?
(…)
Jeden Tag kennt er bis heute neue Streiche. Allerdings gilt er jetzt nicht mehr als schwer erziehbar. Wir haben uns gegenseitig unsere Liebe erkauft. Ich darf ihn knuddeln, kuscheln und knutschen wann ICH will und er darf bei mir bleiben und seinen Schabernack treiben. Ein Abkommen sozusagen. Er ist ein Goldstück! Mittlerweile kennt er von der Welt fast soviel wie ich, er liebt seine Hundetasche, weil er weiß, dass er dann wieder irgendwo mit mir hinfliegt.

Die frische Luft tut gut. Und während ich den kleinen Racker beobachte, wie er einen Labrador ärgert, frage ich mich:

Was würde ich nur ohne ihn machen?Was wäre aus ihm geworden, wenn ich ihn nicht aus dem Tierheim geholt hätte?
Wäre er immer noch da?
Wäre ein anderer lieber Mensch ins Tierheim gefahren und hätte sich für diesen Frechdachs entschieden?

Habe das Bild noch vor mir, wie er da traurig neben einem leeren Freßnapf im Zwinger saß. Überall Dreck! Ein Loch war dieses Tierheim. Es stank, war dreckig… Total eklig. Erbärmlich. Naja, die haben halt kein Geld, um da…

Kein Geld… Kein Geld?

Gute Idee, ich fahre jetzt zu Papa!
Nein, nicht um um Geld zu betteln. Er kennt sich mit Baukosten aus.
Warte ich noch etwas, bis er in Ruhe gefrühstückt hat? Seine neue Freundin kann mich nicht leiden, vielleicht sollte ich sie milde stimmen, wenn ich da jetzt reinplatze… Ach was, einen Tee wird sie mir ja wohl auch machen können mit ihren 29 Jahren. Ja, richtig! Sagt nichts dazu!
Mehr als Frühstück bekommt die auch nicht hin. Das erste und letzte Dinner bei ihr war grobe Körperverletzung.
Egal, ich fahre jetzt los.

Ich bin nicht willkommen, das spüre ich schon beim Durchfahren des Gartentores. Sie ist noch dünner geworden, ich komme mir fett vor.
Dafür bin ich mit mir im Reinen, während sie chronisch unzufrieden und schlecht gelaunt ist. Also, besser keine Diät für mich!

Statt “Guten Morgen” kommt ein “Kannst Du sowas nicht mit ihm im Büro klären?”

Ich muss kurz überlegen. “Nein, das ist nicht möglich. Ich arbeite nämlich auch, im Gegensatz zu Dir, die es vorzieht das Geld anderer Leute zu verprassen, während ich für meine Birkin Bag hart gearbeitet habe!”
Ja, richtig, genau genommen, es beruht auf Gegenseitigkeit. Wir hassen uns! Herrlich, jetzt ist Ruhe und wir können uns den wichtigen Dingen des Lebens widmen.

Papa ist Feuer und Flamme von meiner Idee!
Ok, um das Tierheim wieder in Schuss zu bringen, benötigen wir etwa 50.000 Britische Pfund, wenn er die Handwerker stellt und einen großen Teil der Arbeitszeit spendet. Außerdem würde er auf seine Kosten einen zusätzlichen neuen Trakt bauen, damit die Tiere nicht mehr so zusammen gepfercht sind. Er machte eine Kostenaufstellung und noch am Abend verschicke ich die ersten E-Mails.

Wer von meinen Freunden hat Geld und davon zuviel? Ich weiß, so schrieb ich es natürlich nicht. Aber ähnlich.

Am Montag bin ich bei der Bank und richte ein neues Konto ein. Meine Spende ist die erste darauf und hoffe, dass sie schnell Zuwachs bekommt.

Am Dienstag ein Blick auf das Konto. Kein Pfund mehr drauf!

Am Mittwoch… Hm! Nix!

Nein, ich werde nicht bei meinen Freunden betteln. Die werden schon irgendwann merken, wie schlecht es sich mit einem harten Herz lebt!

Donnerstag traue ich mich schon nicht mehr nachzuschauen.
Hoffentlich bekomme ich wenigstens ein paar Zinsen.

Nachmittags ein geschäftlicher Termin mit einem meiner Models. Während wir so einen Vertrag ausarbeiten, muss ich plötzlich schmunzeln. “Ok, Anja, ich kenne Dein Bankkonto fast so gut wie meins. Ich ändere den Vertrag nur, wenn Du eine Spende locker machst!”

Seit dem Tag wuchs das Konto. Und wuchs. Und wuchs.

Jetzt hatte ich den Dreh offenbar raus! Traurig hatte ich jedoch im Hinterstübchen, wieviel Geld ich mir erpressen und wieviel Zeit und Arbeit ich investieren mußte, um die Leute wachzurütteln.

Am Freitag, den 19. Dezember 2008, einen Tag vor Abflug in meinen jetzt wohlverdienten Weihnachtsurlaub, schloss ich das Konto und ich konnte die frohe Mitteilung verfassen, dass wir das Geld für die Umbaumaßnahmen des Tierheims locker zusammen hatten.
Es war soviel, dass ich spontan beschloss, das übrige Geld in Massen an Kinderklamotten und Spielzeug zu stecken und diese Sachen ins Kinderheim bringen zu lassen. Außerdem organisierte ich einen Weihnachtsmann, der diese Sachen noch am Heiligabend dort verteilen sollte.

Ich wurde belohnt, mit einer Karte, wo einfach nur in großen Buchstaben DANKE stand und mit unzähligen gemalten Bildern der Kinder und Fotos, wie sie mit glänzenden Augen um den Weihnachtsmann sitzen, der spontan beschloss noch Weihnachtsgeschichten vorzulesen.
Wie sie Geschenke auspacken und die neuen Klamotten anprobieren. So rührend, dass ich ganz schön Pfützchen in den Augen hatte. Da bedarf es keinem Dankes-Schreiben der Kinderheim-Leitung. Das war Dank genug!

Ich verschickte Fotos mit einer Dankes-E-Mail an die edlen Spender und siehe da, ich bekam tatsächlich Antworten, ob wir das im nächsten Jahr wieder machen. Der Damm war gebrochen!

Was am 6. Dezember 2008 im mehr oder weniger privaten Rahmen begann, war im folgenden Jahr schon wesentlich organisierter, wurde zeitlich viel früher in Angriff genommen und weitete sich vom 2. November bis 23. Dezember 2009, von unserer Agentur in London über New York, nach Paris und Mailand aus.

Ich wollte, neben der Spendenaktion, ein Plätzchen Backen veranstalten. Was 2009 noch mit 4 Models und meiner Wenigkeit im Kinderheim stattfand, mußte aus Platzmangel 2010 ausgelagert werden. Aber wohin? Denn mittlerweile findet das Plätzchen Backen in allen Londoner Kinderheimen statt. Außerdem in NY, Paris und Mailand.

Einen herzlichen Dank somit an die Luxushotels Four Seasons Park Lane in London, Fairmont Hotel The Savoy in London (seit 2011), Hotel Mandarin Oriental in New York, Four Seasons George V in Paris und Four Seasons Hotel Milano, wo seit 2010 jährlich am 2. Adventswochenende sämtliche Bankett-Räume und Großküchen zum Plätzchen backen für die 4-8 jährigen kleinen Kinderheim Bewohner gesperrt sind. Mein größter Respekt gilt dem Personal, was mit Engelsgeduld stundenlang zu Hilfe ist und Bleche voller Plätzchen einsammelt und backen läßt. Dafür sorgt, dass die richtigen Plätzchen wieder beim richtigen Kind landen, beim Verzieren unterstützt, die Kekse zum Mitnehmen mit verpackt und und und… Außerdem mein großer Respekt an die Putzkolonne. Wer einmal mit kleinen Kindern Plätzchen gebacken hat, weiß wovon ich rede und wo danach überall Mehl, Teig und Zuckerguss klebt und wo man nach geraumer Zeit immer noch irgendwo kleine bunte Perlen, Pistazien- und Haselnuss-Stückchen, Schokostreusel und Sternchen findet. Ich bin selbst in London immer dabei und spreche von einem Ausnahmezustand, wenn ca. 80 Kinder backen!

Mein nächster Dank geht an die verschiedenen Theater und Musicals, die Sondervorstellungen geben für die 8-17 jährigen Kinder.

Harrods, welches immer ein Schlaraffenland an Kinderklamotten, Spielsachen und leckeren Weihnachtssüßigkeiten zur Verfügung stellt. DANKE, da möchte ich wieder Kind sein!

Puuuh, gar nicht so einfach so einen Text zu schreiben, ohne totaaaaal langweilig zu werden.

Ich versuche mich kürzer zu fassen, muss ja auch alles auf eine Doppelseite einer Zeitschrift passen, inkl. Fotos.

2009 kamen Spenden in Höhe von 321.000 GBP zusammen. Es wurde eine neue Küche im Kinderheim in London gebaut und das Bettenhaus wurde renoviert, außerdem eine Schule in Südafrika unterstützt. Vielleicht sollte ich nicht unerwähnt lassen, dass unsere Spenden 1:1 ohne irgendwelche Abzüge auch wirklich verteilt werden.

2010 stieg unser Konto auf sage und schreibe 972.631 GBP, was mein Chef großzügig auf 1.000.000 GBP aufrundete.

Die Sache begann mir über den Kopf zu wachsen. Wohin mit dem Geld?

Papa konnte ich nicht mehr um Rat fragen. Er starb Anfang 2009 an einem Herzinfarkt. Mami’s Rat aus Zürich war irgendwie nicht so richtig hilfreich. Also Opa fragen, der sich irgendwann mal die Berufsbezeichnung “Geschäftsmann” verpasste. “Kind, Du hast den Verstand Deines Vaters und das Herz Deiner Mutter bekommen. Du wirst das schon richtig entscheiden.” Na, dann ist ja alles gut! Und nun? Nächtelang keinen Schlaf, wer konnte auch ahnen, dass meine Models plötzlich immer spendabler wurden.

Ich wollte das Geld nur für Kinder!!
Hatten meine Eltern, meinem Bruder und mir, nicht schon früh beigebracht, dass es nicht allen Kindern so gut geht wie uns?

Ich verteilte das Geld an 3 große Organisationen für Kinder, Kranke Kinder und die Forschung.

Der größte Fehler meines Lebens! Ja, auch das muss man lernen, sich mal einzugestehen. Denn ich hörte nichts! NICHTS!!! Außer einem Kontoauszug, wo besagte 3 Beträge abgingen und 3 Spendenbescheinigungen, die mich einen Dreck interessierten, hatte ich NICHTS!!

Ach, falsch, im November 2011 erhielt ich 3 Schreiben, wie es denn mit einer erneuten Spende aussehen würde.

Auf keinen Fall! Ich sehe ein, dass man jeden Penny in eine Forschung von schweren Krankheiten stecken sollte, aber hier hätte ich zumindest ein DANKE erwartet.

Das Ende 2011 kam in großen Schritten auf mich zu und diesmal überlegte ich mir vorher schon eventuelle Empfänger unserer Spenden. Man wird ja schlauer mit der Zeit. Sollte der Betrag auf meinem Konto dieses Jahr kleiner ausfallen, müßte man halt später Prioritäten setzen.

Allerdings ahnte ich schon, anhand der Anfragen auf den Fashion Weeks im Herbst, dass dieses Jahr alles übertreffen würde. Es hatte sich zu diversen Designern und Models anderer Agenturen herumgesprochen.

15.000.000 US Dollar!!!

Wir haben uns vorbehalten, diesen Betrag auf unserem Konto zu belassen. Für mich! (Kleiner Scherz!)
Nein, neben den Londoner Kinderheimen und dem Kinderkrankenhaus, die immer großzügige Spenden erhalten und die mir persönlich besonders am Herz liegen, haben wir uns bei verschiedenen Institutionen erkundigt, was für welchen Betrag gemacht werden kann/muss und hinterher Rechnungen beglichen. Ein großer Aufwand, jedoch sehr effektiv und unser 1:1 Prinzip trat wieder in Kraft.
Der größte Betrag ging jedoch an das Hadassah Medical Center in Jerusalem, eines der besten Forschungs- und Lehrkrankenhäuser der Welt. Meine Cousine Sara wird dort 2013 im Rahmen ihres Medizinstudiums ein halbjährliches Praktikum absolvieren. Dies sage ich jetzt mal so, damit man mir nicht wieder vorwerfen möge, ich hätte ihr das Praktikum erkauft.

Kommen wir zu 2012!!

Aus gesundheitlichen und privaten Gründen, mußte ich mich dieses Jahr leider aus dem Trubel etwas zurückziehen. Ich habe das Zepter bereits Mitte November an meine besten Freundinnen Anja, Camilla und Elisa übergeben. Ich denke, ich habe mich da richtig entschieden und in Anbetracht des Kontos, auf das ich soeben einen Blick werfen konnte, gibt der Erfolg mir recht! Ich muss sagen, ihr macht das noch besser als ich! Den heutigen Stand verrate ich euch nicht, aber es ist: DER ABSOLUTE WAHNSINN!!!!

ICH BIN STOLZ AUF EUCH!!!

Eure Loui

P.S. Sehr gern hätte ich alle Spender hier aufgeführt, aber dafür müßte eine bekannte Zeitschrift wohl noch eine 3. Seite sponsern….

Wer würde sich so etwas ausdenken?

Die Fälschung war alles andere als perfekt. Bilder von verschiedenen Frauen, das ganze Profil wirkte seltsam steril. Als ich es das erste Mal sah, dachte ich für einen Moment, Jakob hätte seine neue Freundin erfunden. Was Louisa aber perfekt beherrschte, das war das Umschalten von devot zu aggressiv. Mal redete sie ihm nach dem Mund, dann, beim kleinsten Anzeichen von Skepsis auf seiner Seite, wurde sie schneidend und brutal.
Pickup Artists lernen das in Kursen. Manche Leute lernen es in ihrer Kindheit. Es ist tatsächlich eine tieftraurige Geschichte. Jakob hat sie an einer Stelle fast das Leben gekostet*. Und die Frau hinter Louisa hat wohl schon lange keins mehr.

*Als Louisa ihn Weihnachten hängen ließ, war er so verzweifelt, dass er kurz darüber nachgedacht hat, Pillen zu schlucken, ich will das gar nciht dramatisieren, es war ein Moment.


07
Nov 13

Aufhören!

Vor etwa fünf Monaten habe ich mit dem Rauchen aufgehört. Ich lag im Bett mit schwerem Schnupfen und ebenso schweren Gliedern, ich konnte sowieso nicht rauchen, also ergriff ich die Gelegenheit: Ich ließ es einfach bleiben. Ich hörte nicht so sehr auf wegen Lungenkrebs. Ob ich mit 75 an Krebs sterbe oder ein paar Jahre später an Alzheimer, das treibt mich nicht um, beides hat seine unschönen Seiten. Ich hörte auf, weil ich nicht mehr schmeckte, was ich aß. Und man kann ja nun sein Leben nicht in den Dienst der Lebensfreude stellen, wenn man nicht in der Lage ist, Mousse au Chocolat von Hackepeter zu unterscheiden.

Was den Schwierigkeitsgrad des Aufhörens angeht, gilt der Nikotinentzug als der Gewaltmarsch unter den Entzügen. Auf dieser Entzugsskala ist das Aufhören mit dem Nägelkauen ein Spaziergang an einem lauen Sommerabend, das Aufhören mit dem Heroin ein 5000 Meter-Lauf, das Aufhören mit einem Partner, der Tricks im Bett kann, liegt knapp darüber. Aber außer dem Alkoholentzug, bei dem man sterben kann (der Körper kann durch das Aufhören so in Panik geraten, dass das Herz sich aus Selbstschutz geradezu in die Luft sprengt), ist der Nikotinentzug also die Königsdisziplin des Aufhörens. Was zur Folge hat, dass man sich, wenn es mit dem Aufhören gut läuft, fühlt wie Leonardo diCaprio am Bug der „Titanic“.

Die ersten zwei Wochen lang hatte ich Magenschmerzen. Statt wie Leonardo diCaprio fühlte ich mich wie Ottmar Hitzfeld. Ich war reizbar, launisch und sexuell unentschlossen, ich bekam die Haut eines Pubertierenden und hustete, ich hustete, als hätte ich angefangen mit dem Rauchen. Recherchen bei Google ergaben, dass die Flimmerhärchen, die die Lunge reinigen, durch die Zigaretten abgebrannt worden waren und erst jetzt wieder ihre Arbeit aufnehmen konnten. Ich rotzte also die Ergebnisse von sechzehn Jahren Rauchen Morgen für Morgen in das Waschbecken und fühlte mich nun nicht mehr wie Ottmar Hitzfeld, es ging mir eher wie Saddam Hussein in dem Moment, als der amerikanische Militärarzt seinen Rachen untersuchte.

Überdosis Kekse mit Schokoladenüberzug

Die Erinnerung an Zigaretten fühlte sich an wie eine verlorene Liebe. Ein Stich, eine nicht vergossene Träne, mein innerer Zustand war Rosamunde Pilcher im Endstadium, mir war nach Weinen zumute und nach einer Überdosis Keksen mit Schokoladenüberzug. Doch ich hielt durch. Und mit den Wochen setzte ein Wandel ein, wie ich ihn nicht für möglich gehalten hätte. Zuerst merkte ich, dass ich keine Kopfschmerzen mehr hatte. Ich merkte sogar jetzt erst, wie oft und wie heftig ich vorher Kopfschmerzen gehabt hatte. Die Schmerzen waren zu meinem normalen Kopfgefühl geworden. Und ich schlief besser ein, so gut schlief ich ein, dass ich zum ersten Mal seit meinem zehnten Lebensjahr vor Mitternacht einschlief, ich ruhte auf einmal acht statt fünf Stunden, ich war so frisch und lebendig wie eine Punica-Werbung. Das letzte Mal, als mein Körper solche Veränderungen durchmachte, sind mir Schamhaare gewachsen.

Das Aufhören ist das Schöpfen des kleinen Mannes, dachte ich. Wer wie ich nichts Neues schaffen kann, der erzwingt Wandel eben einfach durch Verzicht. Sollte sich das, was immer meine größte Schwäche gewesen war, als meine größte Stärke erweisen? So lange ich mich erinnern kann, war ich ein Quitter, ein Hinschmeißer: kein Durchhaltevermögen, nur bedingt abwehrbereit. Musikalische Früherziehung: frühzeitig abgebrochen. Blockflötenunterricht: geschmissen. Klavierunterricht: nie über Muzio Clementi hinausgekommen. Um nicht beim Schwimmunterricht in der Schule mitmachen zu müssen, bin ich zum Amtsarzt gegangen mit der Behauptung, eine Chlorallergie zu haben.

Der Amtsarzt wusste genau, was für ein Exemplar er da vor sich hatte, brummte aber bloß: „Aber wähl bitte nicht in der Oberstufe Schwimmen.“ Ich habe es sogar geschafft, mit Mathematik aufzuhören, obwohl der Kurs verpflichtend war, es war in diesem Fall allerdings nur eine innere Kündigung. Dass ich mit dem Jurastudium aufgehört habe, hat schließlich ermöglicht, dass ich Autor geworden bin. Aufhören kann ich richtig gut. Und es hat mir viel Freude gemacht. Gut, ich kann auf Abendveranstaltungen nicht lässig zum Klavier schlendern und Chopin spielen, aber das, was ich an Überredungskunst bei meinen Eltern aufwenden musste, um mit all dem aufhören zu können, war genug Training, um Chopin kompensieren zu können.

Zum ersten Mal seit der Zeit, als im Fernsehen noch „Die Pyramide“ lief, war ich eins mit dem Zeitgeist. Ich hatte Verzicht geübt und wurde reich belohnt. Um noch mehr eins zu werden, fuhr ich mit meiner Freundin an die Ostsee. Natürlich in ein Biohotel mit Sternen, so eine Art Manufaktumkatalog unter den Hotels. Tagsüber fuhren wir Rad, abends brachte uns der Kellner Grüße aus der Küche und erzählte, sein Heilpraktiker habe ihm gegen sein Burnout-Syndrom empfohlen, seine Wut in die Wellen zu schreien. Der Kellner war natürlich eigentlich Sommelier und aß manchmal Sand, um seine Geschmacksnerven zu trainieren, und ich hatte eine neugewonnene Lebenserwartung von etwa 90 Jahren. Ich war eine Prenzlbergmutti, hätte irgendwo Laub gelegen, ich wäre mit meinen Füßen durchgefahren und hätte es fliegen lassen.

Alle so gesund hier

Dann las ich in einem nachhaltigen Strandkorb das neue Buch von Michel Houellebecq. Der schreibt vom „theatralischen Ton, den die Ober in den mit einem Stern ausgezeichneten Restaurants annehmen, um die Zusammensetzung der „Amuse-Bouche“ und sonstiger „Grüße aus der Küche“ anzukündigen“, was die Hauptfigur an „sozialistische Priester“ erinnert, die eine „andächtige Messe“ wünschen. Es sei das „epikureische, friedliche, gepflegte Glück (…), das die westliche Gesellschaft den Angehörigen der Mittelschicht gegen Mitte ihres Lebens bietet“. Houellebecq, der Hund! Ich blätterte hektisch weiter – tatsächlich: Sex spielte keine Rolle mehr im neuen Houellebecq.

Ich schaute mich um: Alle so gesund hier, alle rotbäckig, gut verdienend, sie würden alle noch mindestens 60 Jahre leben, aber es würde sich anfühlen wie 600 Jahre. Maß halten! Ich war in der Hölle, betrieben mit Solarenergie. Alle hier hatten mit allem aufgehört, mit dem Rauchen, mit der Völlerei, mit dem Ehebruch, mit der lauten Musik, etwas Fleisch noch, ok, aber morgen nur Soja, Wein bloß ein Schluck. Und in der Nacht würden wir alle am Meer stehen und in die Wellen unsere Wut hineinschreien.

Das gute Brot, die gute Luft, das schöne Radfahren und unsere Rockstars sind „Wir sind Helden“. Der nächste Schritt ist unweigerlich die Askese. Auf Wiedersehen „The Bird“, wo ich den besten Burger der Stadt esse, das Rindfleisch so roh, dass die Hufe noch dranhängen, auf Wiedersehen Kater, der mich früher daran erinnerte, dass ich in der Nacht zuvor etwas richtig gemacht hatte, auf Wiedersehen Übertreibung, Ausschweifung. Nur noch eine ferne Erinnerung der heilende Moment, in dem man sich selber nicht mehr im Spiegel sehen kann. Jetzt sind alle im Reinen mit sich, das kann nicht gut gehen.

Wohin es führen kann, wenn eine Gesellschaft mit allem aufhört, was sie rücksichtslos, fordernd, laut und unappetitlich sein lässt, kann man bei den alten Römern studieren. Die hörten auf mit ihren Orgien, mit ihrer Sklavenhalterei, mit ihren Straßenstrichen und ihren Bordellen, in denen man sich vom Blutrausch der Arena erholen konnte, sie hörten auf, die größten Arschlöcher der damals bekannten Welt zu sein – und wurden Christen. Eine neue Welt erblühte, eine Welt der Nächstenliebe und Barmherzigkeit, eine Welt der guten Werke, in der man den Armen die Füße wusch und in der Sklaven Päpste wurden, eine Welt, in der man ganz nah bei Gott war. Und weit davon entfernt, fließend Wasser zu haben.

Gutmenschen, Schlechtmenschen

Ja, seltsamerweise ging mit dem ganzen Schindluder, den die alten Römer getrieben hatten, auch die komplette Zivilisation den Bach runter. Die christlichen Glaubenskrieger waren zwar gut in Fundamentalismus, aber schlecht in Straßenbau, Architektur, Kunst, Schifffahrt, Hygiene, Geburtenkontrolle (na: da erst recht), sie konnten nicht dichten, nicht denken und eine Ars Amandi hat auch keiner von ihnen geschrieben. Sie hatten aufgehört. Mit allem. Die Christen waren im Grunde das, was man heute den Grünen vorwirft. Gutmenschen, die einen Tugendstaat errichteten, in dem insgesamt weniger los war als in Wuppertals Fußgängerzone an einem Mittwochabend um 21 Uhr. Nun lässt sich mit lauter Schlechtmenschen jedoch kein Staat machen und Gladiatorenspiele machen auch bloß Spaß, wenn die handelnden Akteure keine Familienmitglieder sind.

Der österreichische Kulturphilosoph Robert Pfaller schreibt in seinem neuen Buch „Wofür es sich zu leben lohnt“: „Ein Leben, welches das Leben nicht riskieren will, beginnt unweigerlich dem Tod zu gleichen“. Ich bat ihn, mir die Lage der Dinge zu erklären und er sagte, die heutigen Tugendwächter seien tatsächlich Christen, allerdings ohne es zu wissen. Dies habe mit den 1968 entstandenen Bewegungen zu tun, die alle auf ihre Art christlich gewesen seien. Da das Christentum eine „zutiefst ichbezogene, narzisstische Formierungskraft der Psyche“ sei, könne die Verinnerlichungsbewegung so massiv sein, dass sie sich selbst nicht mehr als religiöse Bewegung wahrnehme. Deshalb gebe es Christentum, das von sich selbst nicht wisse. Gibt es also eine kryptochristliche Erweckungsbewegung? Hoffen wir alle auf Wiedergeburt auf einem saubereren Planeten?

„Schöne neue Welt“

Während in „Schöne neue Welt“ sehr akkurat unsere Zivilisation beschrieben ist, wie sie sein wird, wenn wir weitermachen wie bisher, zeigt der 1993 entstandene Film „Demolition Man“ unsere Gesellschaft, wie sie sein könnte, wenn wir aufhörten. Nach Meinung des Internationalen Filmlexikons fehlt es dem Film an „einer halbwegs plausiblen Zukunftsvision“. Eine Kritik, die belegt, dass man beim Internationalen Filmlexikon noch nie von Jonathan Safran Foer, Tipper Gore oder auch von Tippers Mann Al gehört hat.

„Demolition Man“ zeigt eine Zukunft, in der vegetarisch gespeist wird, in der man nicht flucht und in der man dem Klima Wollsöckchen strickt, weil man es so gern hat. (Sex, das nur nebenbei, wird auch recht keusch und berührungslos praktiziert.) Jonathan Foer dürften Sie noch kennen von Ihrem letzten Versuch, keine Tiere mehr zu essen, er lebt ganz gut davon, genau das zu tun und darüber zu schreiben, der Verzicht auf Fleisch als Weg zum Wohlfühlen. Tipper Gore ist für die „Parental Advisory“-Aufkleber auf CDs verantwortlich, da sie die Familienwerte durch Rockmusik gefährdet sah. Und schließlich Al Gore: Der macht uns allen, indem er um die Welt fliegt, deutlich, dass wir durch das Fliegen das Klima beschädigen.

Er ist wie Superman, bloß ohne Privatleben, er ist unermüdlich im Einsatz für Thermometerstabilität und man möchte sich die sarkastischen Finger abhacken für jeden dieser Sätze: Denn schließlich sind wir es ja nicht mit unseren Gefrierkühltruhen und Erfrischungsgetränken, die unter dem Klimawandel am meisten leiden werden, sondern die Ärmsten der Armen. „Wenn ich fertig mit dir bin, sieht dein Loch aus wie Kotelett“, ist ein Auszug aus „Pimplegionär“ von Kool Savas, und ein Satz, den man nicht unbedingt auf dem iPod der achtjährigen Tochter hören möchte, und Tiere, ja mein Gott, die will doch kein Mensch ernsthaft in Transporten durch ganz Europa sehen, in denen ihnen bei lebendigem Leib die Knochen brechen, in denen sie halb wahnsinnig vor Durst dem Verrecken entgegenfiebern. Man will doch ein Huhn als Mitgeschöpf erleben, nicht als Chicken Wing mit süß-saurer Soße.

Die Erde pfeift auf Wälder

Foer und die Gores haben Recht. Man muss mit all dem aufhören, ich gebe bloß zu bedenken: Die Rouladen meiner Mutter, Jay-Z und Fahrten ins Grüne. Foer und die Gores haben Recht. Und sie sind die Pest. Ich fragte Robert Pfaller, wie ich mit meinem persönlichen Dilemma umgehen sollte: Wenn das Aufhören die Wangen doch so rosig macht, aber es mir gleichzeitig hochkommt, wenn ich noch eine einzige PETA-Anzeige sehe. „Nun, wenn es irgendjemandem besser geht, wenn er kein Fleisch isst, dann ist das ja völlig in Ordnung – dann soll er eben ruhig keines essen. Sich dabei aber auch noch einzubilden, dass man dadurch die Welt rettet, finde ich etwas vermessen.“

Was noch schlimmer ist als die andächtigen Aufhörer von meiner Art, sind die moralischen Unternehmer. Das sind die Leute, die professionell anderen Verhaltensnormen auferlegen wollen. Besessene Bekehrer. Zu den wenigen Tätigkeiten, die mehr Vergnügen bereiten als aufhören, gehört eben, andere zum Aufhören zu bewegen. Europa war einmal von Urwäldern bedeckt, die man nach und nach zu Häusern, Schiffen und Brennholz machte. Versuchen die Südamerikaner einen Zivilisationssprung, heißt es: Hört auf, die Lunge der Erde zu zerstören! Die Erde atmet entweder längst nur noch mit einem Lungenflügel, weil wir Europäer den anderen schon vor langem platt gemacht haben, oder die Erde pfeift auf Wälder – ich bin kein Wissenschaftler, nicht einmal besonders häufig im Wald –, aber die meisten Regenwaldretter haben eben auch keine Ahnung. Dafür ein astreines Gewissen. Und was macht man, wenn man ein gutes Gewissen hat? Man verbietet.

Und zwar alles, was sich bei drei noch nicht an einen Baum gebunden hat: Jugendliche dürfen nicht mehr auf die Sonnenbank, versteckte Fette müssen immer einen Personalausweis dabei haben und rauchen darf man in der Öffentlichkeit nur noch, wenn man mal Bundeskanzler war. Der normale deutsche Ordnungsamts-Irrsinn paart sich mit der Prüderie der amerikanischen Internetunternehmen (Apple und Youtube verbieten rigoros Abbildungen von Brustwarzen) und einem Zeitgeist, der merkwürdig geistlos alles als anstößig empfindet, was nicht von der Zeitschrift Ökotest oder Alice Schwarzer als unbedenklich empfohlen wird.

Steuern und Strafen für Dicksein

Rüdiger Suchsland schreibt auf heise.de, wir lebten „längst in einem moralischen Mullah-Regime der feministischen Taliban, die bald Kleidungs- und Gucknormen errichten werden.“ Und Claudius Seidl fügt in der FAZ hinzu, man habe sich ja „schon vom Rauchen und dem Trinken verabschiedet – und dass demnächst die Prostitution und die Pornographie dran sind, ist da nur konsequent.“

Als ich mich bei Robert Pfaller erkundigte, welche der kleinen Alltagssünden wohl als nächste verdrängt werden würden, antwortete er: „Es sind ja jetzt schon mehrere gleichzeitig: Jeglicher außereheliche Sex wird in die Nähe der Vergewaltigung gerückt, die Alkohollimits für Autofahrer werden ohne Grund heruntergesetzt, an Steuern und Strafen für Dicksein wird gearbeitet, ohne Extremsportart kommt man bei bestimmten Bewerbungsgesprächen nicht mehr weiter.“

Man denke nur daran, dass die Affäre des kalifornischen Gouverneurs Schwarzenegger mit seiner Haushälterin oft in einem Atemzug mit der Verhaftung Dominique Strauss-Kahns genannt wurde – in den Köpfen mancher Journalisten scheint Ehebruch tatsächlich ein Verbrechen zu sein. Peter Praschl schrieb im SZ-Magazin: „Man kann keinem Mann über den Weg trauen, keinem einzigen, möglicherweise steckt in ihm der Teufel, man sieht es ihm nicht an.“ Er stellte dort den Fußballer Franck Ribéry, der eine Prostituierte, die erst 17 war, aber – wie sie selbst beteuerte – über ihr Alter gelogen hatte, gebucht hatte, in eine Reihe mit Jörg Kachelmann, den er leichter Hand einfach mal vorverurteilte. Wie wir heute wissen, zu Unrecht. Pfaller sieht nicht die direkten Verbote als die größte Gefahr, sondern den „durch mangelnde Geselligkeit und durch Zerstörung öffentlicher Räume bedingten Verlust der Genussfähigkeit: Man wird uns gar nicht alles verbieten müssen, da wir, unfähig geworden, das meiste von selbst spontan als eklig, politisch fragwürdig, anstößig, unmoralisch und ungesund empfinden und ablehnen werden.“

Abbildungen der Realität

Die Journalistin Iris Radisch ließ jüngst zum zweiten Mal in der Zeit ihrer Abscheu über Pornographie freien Lauf (nachdem sie gerade erst ein paar Monate zuvor ein glühendes Plädoyer für den Vegetarismus gehalten hatte, in dem sie die Frage stellte – und natürlich verneinte – ob wir überhaupt Tiere essen dürften). Radisch sieht es als gegeben an, dass unter Schulkindern Gangbang-Videos verbreitet sind, wobei sie Gangbang mit „Massenvergewaltigung einer Frau“ übersetzt. Nun versteht man jedoch unter Gangbang etwas völlig anderes, nämlich Gruppensex, oder, wie Wikipedia es ausdrückt: Rudelbums. Ausgehend von ihrer Falschübersetzung kommt sie zu dem Schluss: „Schulkinder imitieren ,Gangbang‘-Vergewaltigungen.“ Wer eh Recht hat, der muss sich um die Wirklichkeit nicht mehr kümmern. Und: Wie imitiert man eigentlich eine Massenvergewaltigung? Spielt einer mehrere Rollen oder lassen alle die Hosen an?

Gegen mich, Liebeskolumnist und Ex-Zivi, ermittelte im vergangenen Jahr zwei Mal das Landeskriminalamt Berlin. Wegen Gewaltverherrlichung und Beschimpfung religiöser Bekenntnisse. Ich hatte in meinem Blog das Video einer Hexenverbrennung in Kenia gepostet und das Bild eines Kruzifixes, auf dem Jesus Christus mit phallusartigen Bauchmuskeln im Stil des Kreuzes von San Damiano dargestellt war. Beides waren nur Abbildungen der Realität, aber von der Wirklichkeit mag mancher sich eben einfach nicht mehr belästigen lassen.

Nun mögen die Leser dieser Zeitung meinen, die Herren Dichter und Denker würden wohl übertreiben und außerdem seien diese Sachen, Fleischkonsum, Rauchen und Porno, also, ja auch alle schlecht. Aber eine echte Verbotskultur macht ja nicht einfach so Halt bei den irgendwie noch nachvollziehbaren Sachen. Am Ende möchte eben jeder etwas verbieten, es gibt ja nicht nur Christen, sondern auch eine Menge Muslime, und schließlich darf niemand mehr irgendwas, was dem anderen hinter dessen geistigen Jägerzaun nicht in den Kram passt.

Das Böse wird aus der Welt herausgehalten

Was in Sachen Verbotskultur beispielsweise in den Köpfen junger Migranten rumspukt, ist zur Zeit sehr hübsch auf der Facebookseite des auch in Deutschland recht erfolgreichen österreichischen Rappers Nazar zu sehen. Der aus dem Iran stammende Musiker entschuldigt sich dort bei „seinen muslimischen Brüdern und Schwestern“ für eine Zeile aus dem Stück „Kein Morgen“. Es geht dort darum, dass Nazar tätowiert ist. Und das ist, so erklären die jungen Korankundler, die ihn zu Hunderten wütend angreifen, mit wachsender Ungeduld, verboten, weil man den Körper so zurückgeben muss, wie man ihn bekommen hat. Nazar selbst ist auch ein Anhänger von Verboten, er postet zusammen mit einigen zustimmenden Sätzen ein Video, in dem ein junger Politiker der SPÖ, also der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, das Verbot des kleinen Glücksspiels fordert. Das kleine Glücksspiel, das sind die Spielautomaten, und weil die die kleinen Leute ruinieren, soll man sie verbieten. Denn, so die schlagende Logik des jungen Mannes, wenn es sie nicht gäbe, hätte niemand ein Bedürfnis nach Glücksspiel. Das Böse wird aus der Welt herausgehalten durch Verbotsschilder, so denkt man sich das heute. Das hat zwar nicht einmal bei Adam und Eva geklappt, aber warum sollte man es nicht immer wieder versuchen?

Dass das Bedürfnis nach Rausch nur in der Welt sei wegen der Verfügbarkeit von Rauschmitteln, ist ein frommer Unsinn, der im Grunde nur an der Realität scheitert. Die Inuit, die in Ermangelung von Pflanzen Schwierigkeiten haben, an Rauschdrogen zu gelangen, essen tagelang nichts und schlafen wenig, um so ein kleines bisschen high zu werden. In Sibirien tauschte man ausgewachsene Rentiere gegen einen kümmerlichen Fliegenpilz und weil der Pilz gar so teuer war, trank man seinen eigenen Urin, um nochmal was von dem Rauschmittel zu haben.

Mit Stress klarkommen

Der Mensch mag ein wenig Exzess, nur wenn er langsam ältlich wird und finanziell ausgesorgt hat, dann wird er wie Harald Schmidt und interessiert sich bloß noch für seine Verdauung. John Lennon nannte „Rubber Soul“ das Cannabis-Album der Beatles, „Revolver“ das LSD-Album. Lady Gaga dagegen nimmt verschreibungspflichtige Medikamente, um mit dem Stress klar zu kommen. Hedonismus ist etwas für Hartz-IV-Empfänger, der Künstler von heute hat zwischen zwei Terminen gerade noch Zeit für biotische Ernährung und einen Arztbesuch. Ob man das an der Musik hört, werden erst spätere Generationen sagen können, ich habe einen Tipp bei meinem Buchmacher hinterlegt.

Wir verhalten uns wie nachdenkliche Arbeitsbienen. Den ganzen Tag schwirren wir umher und sammeln und putzen und halten Instand und schließen Lebensversicherungen ab und halten Termine ein und rufen zurück und buchen Waben und sagen Termine ab und ignorieren unser Handy nicht und nehmen einen Zweitjob an und helfen ehrenamtlich bei „Pollen für drohnenlose Larven e.V.“ und abends, da gönnen wir uns keinen Nektar, wegen der schlanken Linie. Wir sehen im Grunde längst aus wie Wespen.

Für den Einzelnen ist das Aufhören eine wichtige Übung. Wir als Gesellschaft sollten schleunigst aufhören mit dem Aufhören. Denn wie könnte ich stolz auf mich sein, mein Rauchen überwunden zu haben, wenn ich nie hätte anfangen dürfen?


08
Aug 13

Ein Vater

Gestern wurde ich im Zimmer, das zum Hof geht, von einem fürchterlichen Streit auf der Straße geweckt. Die Balkontür war offen, also stand ich auf, um sie zu schließen. Schon im Hofzimmer hatte ich nicht nur Gebrüll gehört, sondern einzelne Worte, ich konnte eine Frau ausmachen und einen Mann, jetzt, an der Tür stehend, verstand ich alles.
Ich trat auf den Balkon, um mir die Streitenden anzuschauen.
Sie waren deutlich jünger als ich gedacht hatte, vielleicht Mitte zwanzig. Sie sehr kräftig, nicht unbeweglich fett, eher wie ein Ringer. Schlagbereit sah sie aus.
Er ein dünnes Kerlchen, Baseballkappe, schlabberige Klamotten, aber keine Baggypants, eher einfach: Es gab für einen so dünnen Arsch keine Hosen.
Der Streit bestand im Wesentlichen aus wiederkehrenden Sequenzen, ich versuche, sie alle wiederzugeben.

1. “Immer belügst du mich!”
“Ich habe gestern gelogen, das stimmt, aber seitdem nicht mehr!”
“Na toll, seit beinahe 24 Stunden nicht gelogen!”

2. “Geh doch zu deiner Schlampe Jessi!”
“Ich war nur gestern bei Jessi, aber sonst ist da nichts!”

3. “Immer bist du weg!”
“Ich war nur einmal für 5 Tage nicht da!”

4. “Geh zu deiner schwangeren Schlampe!”
“Die ist nicht schwanger!”

5. “Dein Kind wirst du jedenfalls nicht mehr sehen!”
(Darauf sagte er nichts.)

6. “Geh halt wieder koksen!”
“Ich habe gestern aufgehört!”

Ich war erstaunt, dass er es sich leisten konnte zu koksen. Ich dachte an einen Dealer, den ich in Bonn gekannt hatte, der Freund einer Kommiltonin aus bester Bonner Familie. Der hatte das Speed mit Kopfschmerztabletten gestreckt. “Vom Speed bekommt man Kopfschmerzen, da ist das doch eine saubere Lösung”, hatte er gesagt. Kokain mit Kopfschmerztabletten, danach sah der junge Mann unter meinem Balkon also aus.
Nach zehn Minuten bekam ich das Gefühl, dass sich hier nichts mehr tun würde. Einmal hatte er versucht sie zu umarmen und sie hatte fürchterlich geschrien, aber anonsten brüllten sie nur in gleichbleibender Lautstärke, manchmal fiel er vor ihr auf die Knie und sie gab weiter vor, ihm nicht zu verzeihen.
Theoretisch könne er wohl irgendein Geld bekommen, wenn er die Therapie machen würde, sie glaubte, er habe auch so Zugang zu Geld, nicht alle Details habe ich verstanden.
Ich dachte, wie oft es einfach reicht, die Dinge nicht zu tun, von denen jeder versteht, dass sie nicht funktionieren.
Nicht lügen, nicht mit Jessi, der Schlampe schlafen, nicht koksen, nicht das Kind vernachlässigen, nicht einfach so verschwinden.
Die häufigste Ursache für Arschlochsein ist eine schwierige Kindheit und doch sagen Eltern einem diese Dinge ja meistens.
Wenn man Glück hat, leben sie einem das sogar vor: Nicht koksen, nicht mit Jessi schlafen, all das eben.
Und doch muss man es irgendwann selber merken, dass es nicht funktioniert.
Manchmal macht es Spaß mit Jessi, manchmal ist das Koks wirklich gut, aber immer landet man auf der Straße, auf den Knien, und weckt die Leute.
Die kräftige junge Frau wollte ihn nicht verlassen, der Weg weg von ihm lag offen vor ihr. Sie wollte, dass er kein Arschloch mehr ist. Sie wollte einen Vater für ihr Kind. Einen Moment dachte ich, ob ich nicht etwas sagen soll, so als Liebeskolumnist oder meinetwegen auch Mensch. Ich bin dann schlafen gegangen. Seit bald einem Tag hatte er da schon nicht gelogen. Vielleicht wird ja eine Serie draus.


26
Jul 13

Väter gegen Mütter

Ich bin seit knapp sechs Monaten Vater.
Die ersten Wochen mit dem neuen Menschen sind eine Zeit, die vermutlich nur andere Eltern nachvollziehen können. Aufregend, ermüdend, an die Grenzen treibend. Aber schön, wunderschön. Ursprünglich wollte ich die ersten zwei Monate nicht arbeiten und nur bei meiner Frau und dem Baby sein, aber dann kam das kleine Gemeinschaftsprodukt zwei Wochen früher als erwartet, einige Texte waren noch nicht fertig, ich musste also erst einmal weiterarbeiten. Es kamen neue Aufträge, die ich nicht absagen wollte, und auf einmal merkte ich, dass ich Geld viel wichtiger als zuvor fand. Ich war in einem Versorgermodus, ich fing eine Sache nach der anderen an, weil ich auf einmal das Bedürfnis nach einem satten Polster auf dem Konto hatte, ein Polster, das auch noch halten würde, wenn ich einmal krank wäre, ein Windelpolster, ein Fläschchenpolster, ein Medikamente- und Spielzeugpolster, ein Größerewohnungpolster.
Ich redete mit meinem alten Freund K. über diesen Versorgermodus. K. sagte, ich solle vorsichtig sein. Er fahre in diesem Modus seit 5 Jahren und sei mittlerweile „stresskastriert“. Im Bett laufe deswegen schon ewig nichts mehr. Dazu verachte ihn seine Frau, weil sie nur halbtags arbeite, während er ja unbedingt Karriere machen müsse, während sie bei den Kindern zu bleiben habe.
Eine Scheidung käme aber nicht infrage: Dann würde er seine beiden Töchter nie wieder sehen. Mütter würden doch immer das Sorgerecht bekommen.
Von solchen Dingen will ich im Moment eigentlich nichts wissen. Und erst recht nichts von Geschlechterkrieg und Kampf um das Kind. Und außerdem: Haben wir das nicht überwunden? Wenn es die für alle frischen Eltern düstere Bedrohung am Horizont schon gibt – dass man eines Tages keine Familie mehr ist – kann man dann nicht wenigstens darauf hoffen, dass das alles zivil über die Bühne geht?
Je mehr ich mich umhörte, desto klarer wurde mir: kann man nicht. Im Gegenteil, die Frauen und Männer rüsten auf im Kampf um das Kind, es wird, fein säuberlich getrennt nach Geschlechtern, in Lagern gekämpft. Es gibt nicht mehr nur die Vätervereine, die sich bereits seit 40 Jahren bemühen, die Rechte der Väter zu vertreten, sondern seit kurzem auch zum Beispiel den Verein „Mütterlobby“ für weibliche Scheidungskriegsopfer. Zweite, unschöne Erkenntnis: Die Weichen für diese traurigen Rosenkriege werden zu einer Zeit gestellt, zu der viele an Trennung noch gar nicht denken. In dem Moment nämlich, in dem wir in die Geschlechterrollenfalle tappen. Und das passiert den allermeisten Paaren. Weil, dritte Erkenntnis: Die Politik immer noch versagt, wenn es darum geht, Gleichberechtigung in Familien- und Arbeitsleben zu unterstützen.

Natalie Bauer, die in Wirklichkeit anders heißt, wollte nach der Scheidung durchsetzen, dass ihre Kinder bei ihr wohnen und den Vater nur alle zwei Wochen sehen. Sie hatte gute Argumente auf ihrer Seite, denn es gilt im Sorgerechtsverfahren das Kontinuitätsprinzip, und Bauer hatte zum Zeitpunkt der Trennung fünf Jahre in Elternzeit verbracht, während ihr Mann Vollzeit weiter arbeitete. Meistens war er erst um neun Uhr abends daheim, die Kinder waren dann schon im Bett.
Im Sorgerechtsverfahren behauptete ihr Ex-Mann dann, sie habe ihn und die Kinder massiv geschlagen. Auf den Gedanken, das zu behaupten, habe ihn wohl ein Väterverein gebracht, glaubt Natalie Bauer, die sich inzwischen vom Verein „Mütterlobby“ beraten lässt.

Nur so sah ihr Ex-Mann wohl eine Chance, das Umgangsrecht zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Während die gemeinsame Sorge inzwischen Standard ist, ist die Frage des Umgangsrechts zurzeit das umstrittenste Thema zwischen organisierten Vätern und Müttern. Die Väter befürworten ein Modell, bei dem die Kinder jeweils für einige Tage bei der Mutter und dann beim Vater leben. Gängiger ist das Residenzmodell, bei dem das Kind einen Hauptaufenthaltsort hat. Das von den Vätern favorisierte Wechselmodell, inzwischen in den USA, Frankreich, Spanien und anderen Ländern gesetzlich verankert, scheint sich auch in Deutschland durchzusetzen.

Die Kinder sollen beide Eltern haben, klar, das klingt logisch. Aber warum erst nach der Scheidung? weiter bei der Berliner Zeitung


12
Jul 13

Mia und Roman schauen einen Porno

Sich gemeinsam einen Porno anzuschauen, wenn irgendetwas mit der Libido nicht so ist wie es sein sollte, liegt nahe. Naja: Eigentlich tut es das nicht, besonders dann nicht, wenn beide Partner nichts mit Porno am Hut haben und der weibliche Teil überzeugte Feministin ist.
Wie alles, was Roman irgendwann in seinem Leben tat, reifte der Entschluss zum Pornoschauen über lange Zeit. Durch diese lange Reifung waren Romans Handlungen, wenn sie denn dann irgendwann einmal geschahen, immer von erstaunlicher innerer Überzeugung getragen, wenn sie auch auf noch so abwegigen Überlegungen basierten.
Natürlich wusste er, dass es im Internet tonnenweise Pornographie gab. Aber er wusste nicht, wie er an die kommen sollte. Google-Suchen nach Porno, nackt, nackte Frauen, Geschlechtsverkehr, Schwanz und Vagina ergaben nichts, also nichts, was seinen Plänen entgegengekommen wäre. Auf Youporn, von dem er auch schon gehört hatte, gab es bloß viel zu kurze Clips in schlechter Qualität. Die Vorschaubilder sahen aus wie ein Vorbereitungskurs eines Anatomielehrgangs, manche auch wie Beweisfotos in einem Kriegsverbrecherprozess.
Also ging er in seine Videothek, schaute sich um, fragte den Verkäufer, und der Verkäufer sagte, Pornos hätten sie schon längst nicht mehr, die würden sich ja alle aus dem Internet besorgen. Er könne ja im Spezialladen mal schauen, bei Beate Uhse.
Statt einer Ansammlung von Perversen tummelten sich bei Beate Uhse hauptsächlich Teenager, Touristen und Pärchen. Roman fühlte sich trotzdem wie ein Perverser, schließlich war er weder Teenager noch Tourist, und hier eher doch ein einzelner Herr mittleren Alters, der zwischen Riesendildos und Muschipumpen nach Porno-DVDs Ausschau hielt.
Erstaunlich viele Leute schienen das Bedürfnis zu haben, ihre Großmutter zu beschlafen. „Blasen auf dem Zahnfleisch“ war eine Serie mit gleich 18 Teilen, „4 Fäuste in Oma Julia“ musste wohl ein Einzelexemplar sein. Auf den meisten Covern stand irgendwas mit Teenie. Teenietittchen. Teeniemösen. Teeniemäuler mit leckerer Ficksahne.
Die Teenies waren im Schnitt 26 Jahre alt und trugen Frisuren aus alten Mr.President-Videos auf. Die männlichen Darsteller hatten epilierte Eier und Hälse, die so breit waren wie der Kopf. Die Frauen auf den DVD-Hüllen schauten gelangweilt, während die Männer sie begatteten, die wiederum sahen dabei aus, als würden sie Gewichte stemmen. Es wirkte nicht, als würden die Produzenten bei der Auswahl auf die Männer achten und das war ein kritischer Punkt: Roman wollte sich ja durchaus als zuvorkommend erweisen, er dachte, dass so ein gemeinsam betrachteter Riesenschwanz vielleicht irgendwelche erfreulichen Sexualeffekte haben könne.
„Aber die sahen alle aus wie Türsteher“, sagte Roman, „manche hatten Kevin Kuranyi-Bärtchen, manche Bushido-Frisuren, manche Brustwarenpiercings, aber alle schauten, als würden sie lieber verhindern, dass einer reinkommt, als einen reinzustecken. Ich habe dann schließlich einen gefunden, wo der Hauptdarsteller ganz in Ordnung aussah, so ein trainierter Araber. Den Film habe ich dann also gekauft, leihen konnte man da nichts, naja, egal, dachte ich, wenn‘s was bringt.“
Roman war mit der genaueren Gestaltung der Abendplanung etwas überfordert, und Überforderung, das passierte ihm eigentlich nie. Aber ich wüsste jetzt auch nicht; für einen gemeinsamen Pornoabend, braucht man da Kerzen? Bereitet man Knabbereien vor oder isst man vorher lieber richtig? Macht man das Ganze völlig beiläufig oder trinkt man vorher noch ein Glas Wein? Oder verträgt sich mit „Der Ficksultan von Pornostan“ eher doch ein Bier?
Es gab dann also gedimmtes Licht, Bruschetta und Weißwein. Er musste Mia drei Mal rufen, ehe sie von ihrem Schreibtisch aufstand, sie setzte sich dann unter wenig Begeisterung verheißenden Geräuschen auf das Sofa, er startete den Player und hockte sich auf das vordere Drittel des Sessels. „Also dann“, sagte er.
Der Film fing in einer plüschigen Kulisse an. Der Araber vom Cover trug eine rote Bommelmütze und sah einer drallen Blondine beim Hinternwackeln zu.
„Wie findest du denn die?“, fragte Mia.
„Naja“, sagte Roman.
Jonathan hatte schon immer auf Frauen mit komplizierten Nasen und störrischen Brauen gestanden, Frauen wie aus seinen Romanen. Einmal hatte Mia ihn dabei gestört, wie er sich auf einen Flyer vom Ernst-Busch-Theater einen runtergeholt hatte.
Sie hatte das Gefühl gehabt, ihm nicht zu genügen, mit ihren weichen Zügen und ihren Kinderwimpern, die immer zu aufgeweckt klimperten, und unter denen hinweg sie nie so recht kühl schauen konnte. Deswegen war sie so lange bei ihm geblieben. Die Blonde in dem Film löste in ihr nicht dieses beklemmende Gefühl von damals aus.

„Und gefällt er dir?“, fragte Roman.
„Uh, gar nicht“, sagte Mia. „Dumm und brutal ist nicht so meins, aber das könntest du ja eigentlich wissen.“
Roman nippte an seinem Wein.

Recht unvermittelt hatte auf dem Bildschirm die Handlung begonnen. Die Frau lutschte an dem ziemlich beeindruckenden Geschlechtsorgan des Arabers rum, wobei sie sich immer wieder verschluckte, so dass ihr Speichel aus dem Mund rauslief. Ihre Augen tränten, die Schminke verlief und der Araber feuerte sie an. Schließlich zog er sie hoch und sagte: „So, jetzt gibt‘s was in die Schokohöhle.“

Mia sah nun aus, als würde sie gleich anfangen zu stricken.
Roman fühlte sich verantwortlich für das Programm. Er war jetzt wieder 11 Jahre alt. Links saß seine Mutter auf dem Ledersessel und beobachtete, ob sein Vater, der sich auf der Couch ausgebreitet hatte, auf die Brüste der Schauspielerin in der gerade laufenden Familienserie reagierte. Jedes Stückchen Haut wurde von ihr abfällig kommentiert, hatte eine große Brüste, dann war die an die Rolle gekommen, nur weil „sie mit ihrem Matschbusen gewackelt“ hatte, sah eine knabenhaft aus, „könnten die ja gleich zwei Jungs zeigen“. Roman hoffte immer, dass nichts passieren würde, dass alle schön angezogen blieben und sich totschießen würden nach einer Verfolgungsjagd, bloß nichts Nacktes, weil es dann immer so komisch ruhig wurde, bis seine Mutter dann sagte: „Na, das sieht der Papa gern.“

(Auszug aus Versiebt, Verkackt, Verheiratet)


13
Jun 13

Sie sind wahrscheinlich etwas hässlich

Die Schatten unter Ihren Augen werfen Schatten, und Sie wissen, dass Sie endgültig aussehen wie Ihre Mutter, wenn Sie morgens in den Badezimmerspiegel schauen und eine Erklärung für Ihre Morgenlatte stammeln. So ist das eben.
Denken Sie nicht so viel über Ihren Körper nach. Er ist nicht für Ihr Glück verantwortlich und viel ändern können Sie sowieso nicht.
Ihr Haar ist fettig, die Nase groß, die Zähne klein. Naja: Irgendwie müssen Sie halt aussehen. Und wer will schon große Zähne haben?
Schön ist, was nicht herausfällt aus dem Normalmaß, was unauffällig ist. Mit anderen Worten: Wenn Sie von flüchtigen Bekannten problemlos auf der Straße erkannt werden, sind Sie vermutlich ein bisschen hässlich.
Allerdings ist das kein Problem, denn Schönheit hat mit der Liebe nichts zu tun, es ist unmöglich, so hässlich zu sein, dass man nicht glücklich werden kann.
Attraktivitätsforscher hingegen sind sich gerade in diesem Punkt einig: Körperliche Attraktivität ist die wichtigste Regel der Anziehung.
Wenn Schönheit aber so wichtig ist: Warum sind wir dann nicht alle 1,90 Meter groß, duften, sind sportlich und symmetrisch? Schauen Sie sich Ihren Vater und Ihre Mutter an und beantworten Sie doch bitte anhand all dieser Studien: Wie um Gottes Willen haben die zueinander gefunden? Auch wenn sich die Wissenschaft um objektive Kriterien für Attraktivität bemüht, in der Regel hängt es davon ab, wen man fragt.
Die Leser der Bunten wählten Cosma Shiva Hagen auf Platz 1 ihrer Sexbombenliste, die der Bild Charlotte Engelhardt.
Es kommt aber auch darauf an, wann man fragt: 2003 ließ RTL die erotischste Frau Deutschlands küren, Siegerin wurde die DSDS-Finalistin Juliette Schoppmann. Sie war zu dem Zeitpunkt häufig im Fernsehen zu sehen und erschien den Zuschauern daher als besonders attraktiv.

Aber was ist denn nun schön? Vielleicht kann man unter Laborbedingungen eine Definition finden:
„Bei Frauengesichtern sind kindliche Merkmale wie große, rundliche Augen, eine große gewölbte Stirn, sowie kleine, kurze Ausprägungen von Nase und Kinn stark attraktivitätserhöhend.“
Das fanden Psychologen der Universität Regensburg heraus. Sie hatten 64 Frauengesichter fotografiert und diese dann am Computer vermischt und mit kindlichen Merkmalen versehen. Die Resultate ließen sie von Testpersonen beurteilen. Am attraktivsten wurden jene Gesichter eingeschätzt, denen eine hoher Kindchenanteil beigemischt worden war. Nach den Gesetzen der Biologie können solche Gesichter in der Realität allerdings nicht existieren, worauf die Regensburger Psychologen auch ausdrücklich hinweisen.
Was bedeutet das nun für uns, die wir in der Realität mit unseren äußerst realistischen Gesichtern umzugehen haben?
Gar nichts.
Aber unsere Gesichter sind meistens auch gar nicht das Problem, sie kennen wir ja aus dem Spiegel und was wir oft sehen, das finden wir auch hübsch. Unzufrieden sind wir mit unseren Körpern, die sehen wir zwar auch dauernd, aber Körper sind so unpersönlich und zu unserem großen Verdruss viel messbarer als Gesichter, so dass wir nur in eine BMI-Tabelle schauen müssen, um zu wissen: Mein Körper hat mich verraten.
Ökonomen der Universitäten Columbia und Alicante haben herausgefunden, dass zumindest Männer recht unbelastet futtern können. Sie müssen bloß mehr verdienen. In Fatter Attraction: Anthropometric and Socioeconomic Characteristics in the Marriage Market legen sie dar, dass 10 Kilo zusätzliches Gewicht durch ein Gehalt, das um 1 Prozent höher ist als das des schlankeren Konkurrenten, ausgeglichen werden können. Wenn also der eine Mann ein Gehalt von 3000 Euro hat, dann kann der andere mit nur 60 Euro, die er im Monat mehr verdient, zwanzig Kilo dicker sein, um genauso attraktiv gefunden zu werden.
Den Forschern zufolge spielt die physische Attraktivität von Frauen eine größere Rolle auf dem Heiratsmarkt als die der Männer. So kommt es, dass schwerere Frauen dreifach gestraft sind: mit einem Ehemann von niedrigerem sozioökonomischen und physischem Status (ärmer, schlechter ausgebildet und kleiner). Schwere Männer hingegen sind jedoch nur einfach gestraft: Ihre Ehefrauen erreichen ein niedrigeres Bildungsniveau. Kleine Frauen neigen dazu, Männer mit niedrigerem sozioökonomischen Status (schlechter ausgebildet und ärmer) zu heiraten. Kleine Männer hingegen müssen auf zweierlei Ebenen Abstriche machen: auf der physischen und der sozioökonomischen, denn ihre Ehefrauen sind schwerer und schlechter ausgebildet. Die Untersuchungsergebnisse legen nahe, dass Männer und Frauen bei der Partnerwahl verschiedene Kriterien unterschiedlich stark gewichten: Männer legen mehr Wert auf den weiblichen Körper und weniger auf ihre ökonomischen Ressourcen – Frauen hingegen achten eher auf die Versorgungsfähigkeiten des Mannes und weniger auf dessen Aussehen.
Wie hat dann der winzige Lenny Kravitz die schöne Vanessa Paradis erobert; wie der zwergenhafte Tom Cruise die schlanke Katie Holmes? Ach ok, die sind ja reich. Aber wie konnten Kravitz und Cruise überhaupt erst so reich werden, wenn doch nur attraktive (also große!) Männer Erfolg haben? Alles so kompliziert mit den Regeln der Anziehung.
Wenn man aber nunmal ein kleiner Mann ist und zufällig kein Star, nicht singen kann und vor der Kamera ins Stottern gerät, was könnte man dann tun?

Otto Rehhagel, als Trainer Europameister mit Griechenland geworden, wurde einmal gefragt, warum er nur so große Spieler in der Abwehr aufstelle. „1,90 Meter kann man nicht trainieren“, sagte er, und wer würde ihm da widersprechen wollen. Ich meine: Europameister. Mit Griechenland!
Größe fällt also schon einmal weg.
Aber man könnte doch Pumps anziehen oder wie Sylvester Stallone besonders dicke Sohlen tragen oder mit einem kleinen Kasten herumlaufen wie Humphrey Bogart oder aber zu Stehpulttricks greifen wie Gerhard Schröder oder sich mit winzigen Tänzern umgeben wie Madonna?
Irgendwann jedoch kommt die Stunde der Wahrheit, irgendwann muss man die Schuhe ausziehen, man vergisst den Kasten, kommt hinter dem Stehpult hervor oder steht neben einem ausgewachsenen Menschen. Und dann sieht man erst recht klein aus.
Wenigstens der Sport bleibt doch den optisch Herausgeforderten, um ein paar naturgegebene Nachteile auszugleichen, nicht wahr?
Aber wofür?
Es führt zu nichts, sich mit seinem Aussehen zu beschäftigen. Ein niedriger Körperfettanteil macht nicht glücklich. Im Wesentlichen bleibt man eine Kreuzung zwischen seinen Eltern, da hilft alles nichts. Die Zeit, die man in Optikverbesserungsmaßnahmen steckt, würde man besser mit anderen Menschen verbringen. Denn Nähe macht attraktiver als Fettabsaugung.
Je mehr man sich mit seinem Körper beschäftigt, desto unzufriedener wird man – niemand fühlt sich so bleich wie der Solariums-Dauergast, niemand entdeckt so viele Schwachstellen an seinen Deltamuskeln wie der Bodybuilder, niemand fühlt sich so fett wie der Mensch auf Diät.

Der Text ist ein Ausschnitt aus dem Kapitel “Sie sehen aus!” aus Frauen und Männer passen nicht zusammen, auch nicht in der Mitte (Amazon-Link)


08
Apr 13

Der Hass auf die Herausragenden

Ein Promimagazin auf RTL. Einige Teenager warten vor einem Hotel auf Britney Spears. Deren Limousine rauscht an den Fans vorbei, für einen viel zu kurzen Moment ist der Star zu sehen in einem fliederfarbenen Umhang. Die Fans sind aufgelöst, eine der Gefassteren schnauft: „Nicht mal geguckt hat die! Ich hass’ die voll in ihrem lila Kleid.“

Ein harmloses Beispiel für den Hass auf die Herausragenden. Ein wütender Satz, in der Aufgeregtheit der Situation gesprochen. Aber der Hass hat durchaus Methode. Woher er kommt, versuche ich mit Hilfe von Robert Pfaller, Sigmund Freud, Richard Sennett und dem CEO von Beiersdorf zu klären.

Celebrity-Kultur: Der Preis des Ruhms


09
Mrz 13

„Frau, die Milch kocht über“ – Frauen sind die Packesel der Emanzipation

„Frau, die Milch kocht über!“ Es muss irgendwann Anfang der Achtzigerjahre gewesen sein. Unser Nachbar Herr Fröhlich saß in der Küche, bemerkte, dass die Milch auf die Herdplatte schäumte und tat, was zu tun war. Er rief seine Frau. Die eilte sogleich aus dem Waschkeller herbei und rettete die Milch. Mein Vater war Zeuge dieser Szene und zusammen mit dem uralten Bilderwitz aus der Funk Uhr, in dem ein Mann zu seiner Frau, die schwer beladen vom Einkaufen kommt, sagt: „Schatz, was trägst du denn so schwer, geh doch zwei Mal“, gehörte dieser Ausruf von da an zum Familienrepertoire.

„Frau, die Milch kocht über!“ kam damals schon aus einer anderen, längst untergegangenen Welt, einer Welt, in der Männer daheim Drohnen waren und Frauen Arbeitsbienen. Eine Welt, an die wir heute erst recht nur noch sehr ferne Erinnerungen haben, nicht wahr?
„Deutschland gehört neben Irland, Griechenland, Luxemburg, Australien, Spanien und Italien zu den Ländern, in denen sich die Erwerbsbeteiligung der Väter mit mehreren betreuungsbedürftigen Kindern von der der Mütter besonders stark unterscheidet.“
Dieser etwas komplizierte Satz findet sich auf der Homepage des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend. Er bedeutet: Sobald es in einer Ehe Kinder gibt, bleibt die Frau zu Hause und der Mann arbeitet.

Können Männer eigentlich Kinder und Karriere unter einen Hut bringen? Diese Frage wird nie gestellt und zwar zu Recht, denn für Männer existiert diese Problematik nicht. Eine Studie aus der Schweiz kommt zu dem Ergebnis, dass 90,1 Prozent aller männlichen Führungskräfte verheiratet sind, aber nur 41 Prozent der Frauen. Die Emanzipation der Frau hat bisher hauptsächlich für Männer Verbesserungen gebracht: Frauen kümmern sich nun nicht mehr bloß um Haushalt und Kindererziehung, darüber hinaus verdient die Frau jetzt auch noch Geld.
Schon seit einigen Jahren wird bei manchen Entwicklungsprojekten in Drittweltländern Geld nur noch an Frauen ausgezahlt, weil diese das Geld für ihre Familien verwenden, während Männer dazu neigen, es für sich selbst auszugeben.
In Deutschland käme natürlich niemand auf den Gedanken, Sozialhilfe für Familien an die Frauen auszuzahlen, denn deutsche Männer sind ja vollständig emanzipiert.
Oder?
Renate Schmidt, Ministerin für „Gedöns“ unter Gerhard Schröder, sagte, „die Angst vor dem feuchten Textil, ob Windel, Wäsche oder Wischlappen“ sei „bei Männern ungebrochen“.
Zwei Minuten täglich wenden Männer für das Wäschewaschen auf (pdf). Zwei Minuten an der Waschmaschine müssten einem als Mann eigentlich genauso peinlich sein wie zwei Minuten beim Sex.
Denn am Sex scheitern Ehen in der Regel nicht. Karriere der Frau (68 Prozent), Haushalt (67 Prozent) und Beruf vs. Privatleben (50 Prozent) sind nach einer Allensbach-Studie die größten Konfliktfelder zwischen Männern und Frauen. Sexualität nennen nur knapp 30 Prozent als Problem (vermutlich, weil sie sich daran nicht mehr erinnern).
Zwei Minuten brauche ich alleine schon, um an der Waschmaschine den Feinwaschgang zu finden. Ich bin selber erstaunt, denn wenn mir meine Freundin mit ihrer freundlichen Pädagoginnenstimme, die sie benutzt, wenn sie merkt, dass ich gerade wieder einmal drei Jahre alt geworden bin, erklärt, wie es geht, dann sehe auch ich: Den Feinwaschgang kann ich da einstellen, wo auf der Maschine Feinwäsche draufsteht. Aber in der Hitze des Gefechts trübt sich mir oft der Blick.
Es verlangt mir schon übermenschliche Kräfte ab, zu entscheiden, mit welchen anderen Farben zusammen ein hellblaues Hemd gewaschen wird. Auch als Mann, der in einem gentrifizierten Viertel lebt, in dem sogar die
Rindersteaks, die ich beim Biometzger kaufe, in nicht-geschlechtsdiskriminierenden Ställen von veganen Lesbierinnen großgezogen wurden, mache ich eben nicht alles richtig.

Katja, eine Bekannte, die Genderakrobatik oder so studiert, fragte meine Freundin und mich einmal, wer denn bei uns die Pille bezahle. „Ich hole die Pille in der Apotheke ab, wenn ich sowieso da bin, und bei dieser Gelegenheit“, setzte meine Freundin an, und wurde von einem Aufschrei meiner feministischen Bekannten unterbrochen.
„Aha! Das ist nämlich so typisch. Ich habe gerade erst an der Uni eine Umfrage gemacht, und es ist nämlich immer so: Männer scheren sich nicht um Verhütung. Wer bezahlt, ist da ein ganz klares Indiz.“ Ich war zutiefst beschämt. Meine Freundin stotterte etwas von:
„Schon okay“, und zählte ein paar Sachen auf, die ich bezahle und von denen sie auch profitiert, aber Katja ließ Ausflüchte nicht gelten: „Nein, nein, nein. Wenn ich schon Hormone schlucken muss, dann MUSS der Mann die Dinger selber abholen und bezahlen. Alles andere ist Sexismus.“
Ich fühlte mich, als hätte sie gerade meinen Ku- Klux-Klan-Mitgliedsausweis entdeckt.
Reicht es nicht, irgendwie nett zu sein, einkaufen zu gehen, zu spülen, zu schnipseln, Bereitschaft zu signalisieren, eines fernen Tages Windeln zu wechseln, das Bad zu reinigen, bei der Magisterarbeit zu helfen und andere Frauen zu ignorieren oder ist man als Mann im Grunde immer ein notdürftig rasierter Taliban?

Abends habe ich mir dann zur Beschwichtigung ein Schuljungenkostüm und tolle Wäsche drunter angezogen und mich lasziv durch die Wohnung bewegt.
Scheiß Emanzipation.
Früher waren die Dinge klarer. Gott hielt nicht viel vom weiblichen Geschlecht und deswegen sagte er zu Eva, der Stellvertreterin aller Frauen: „Du sollst mit Schmerzen Kinder gebären; und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, und er soll dein Herr sein.“
Man hatte mit der Erbsünde eine praktische Begründung dafür, warum Frauen immer den Abwasch machen mussten.

Heute machen Frauen immer noch den Abwasch, aber kaum jemand glaubt, dass das etwas mit Eva, Adam und der Schlange zu tun hat. Man glaubt stattdessen, das sei halt in den Genen festgeschrieben.
In „Der falsch vermessene Mensch“ erzählt Stephen Jay Gould, wie den alten Griechen die natürliche Ordnung erklärt worden ist. Denen, „welche geschickt sind zu herrschen“, zitiert er Platon, wurde „Gold bei ihrer Geburt beigemischt, weshalb sie denn die köstlichesten sind, den Gehilfen aber Silber, Eisen hingegen und Erz den Ackerbauern und übrigen Arbeitern.“
Später maß man Schädelgrößen, um zu belegen, dass die Weißen eine überlegene Rasse sind. Immer nahm man das, was gerade der neueste Stand der Wissenschaft war, damit man nach allen Regeln der Kunst einen Beweis dafür fabrizieren konnte, dass alles schon immer so gewollt war, wie es ist. Die aktuelle Ordung ist immer die natürliche Ordnung.
Ganz gleichgültig, wie außerordentlich wahnsinnig diese Ordnung auch ist.
Bei den Sambia, einem kriegerischen Stamm in Papua-Neuguinea, leben die Jungen bis zum zehnten Lebensjahr bei ihren Müttern, getrennt von ihren Vätern, die unter sich in Männerhäusern leben.
Dann werden sie in brutalen Initiationsriten blutig geschlagen, müssen tagelang im Wald leben und wenn sie das überstehen, dann kommen sie ins Männerhaus, wo sie gezwungen werden, die Junggesellen zu fellationieren.

Ja, Sie haben richtig gelesen: Tag für Tag müssen die kleinen Jungen die Älteren oral befriedigen und – das ist besonders wichtig – den Samen trinken.
Denn durch den männlichen Samen werden die Jungen zu Männern. Blut ist in der Vorstellung der Sambia weiblich, weswegen die Sambia-Männer höllische Angst vor menstruierenden Frauen haben; sie könnten durch das Blut ja feminisiert werden.
Der Unterschied zwischen Männern und Frauen: Mal liegt er im Blut und im Sperma, mal in der Erbsünde begründet, Biologisten sehen ihn in den Hormonen und Genen.
Man kann nicht mit letzter Sicherheit entscheiden, ob Männer und Frauen von Geburt an unterschiedlich sind. Es gibt feststellbare statistische Unterschiede in Verhaltensweisen und Vorlieben, die für die einzelne Person nichts aussagen, aber nun einmal so sind wie sie sind. Es ist dabei gleichgültig, ob sie von Natur aus gegeben sind oder durch die deutlich unterschiedliche Erziehung, nur Leute, die davon leben, dass diese Debatte weiter läuft, halten das für relevant.

Lassen Sie uns also der Einfachheit halber so tun, als seien alle sich einig, dass Frauen die gleichen Möglichkeiten im Leben haben sollten wie Männer. Und da wird es leider offensichtlich, dass die bisherigen Bemühungen um Chancengleichheit in eine Sackgasse geführt haben.

Schon zum „Jahr der Frau“ 1975 schrieb der Spiegel, dass Mädchen deutlich bessere Schulnoten als Jungs hätten und die Männer vermutlich abgehängt werden würden.
Dieselben Sorgen um die armen Männer werden heute geäußert, als hätten nicht die vergangenen 35 Jahre gezeigt, dass bessere Noten für die Frauen nicht mit einem besseren beruflichen Fortkommen einhergehen. Für eine Karriere braucht man Eigenschaften, die Frauen nicht anerzogen werden und man braucht einen Partner, der einen unterstützt.
Es verhält sich in der Welt der Wirtschaft so, als würde ein Mann beim Hundertmeterlauf der Frauen teilnehmen. Die Regeln sind so gemacht, dass sie Männern nutzen, sie sind von Männern gemacht und Männer bestimmen die
Teilnahmeberechtigung. Wie soll man da als Frau in den Wettbewerb treten können?

Clay Shirky, Professor für Neue Medien an der New York University, erzählt in seinem Blog von einem früheren Studenten, der ihn um ein Empfehlungsschreiben bat. Shirky ließ den Studenten das Schreiben aus Bequemlichkeit selbst aufsetzen, musste es dann aber erheblich dämpfen, da die Begeisterung des Studenten von sich selbst dermaßen überzogen war, dass es klang, als habe nicht ein Mensch, sondern eine PR-Agentur die Empfehlung verfasst.

Selbst mit den von Shirky vorgenommenen Abmilderungen war es das beste Empfehlungsschreiben, das er je abgegeben hatte. Mit einer solchen Empfehlung in der Tasche hat der größenwahnsinnige Student nun natürlich die besten Voraussetzungen für eine steile Karriere. Eine Karriere, die Frauen verwehrt bleibt, so Shirky, weil sie schlecht darin seien, sich wie „selbstdarstellerische Narzissten, anti-soziale Besessene und aufgeblasene Aufschneider” zu verhalten. Man bräuchte neue Spielregeln für ein Miteinander, man bräuchte eine Gesellschaft, in der nicht der, der am lautesten Alphamännchen spielt, sich durchsetzt.

Auf das Spielerische kommt es übrigens auch in anderer Hinsicht an: Es kann sehr schön sein, zeremoniell Rollen einzunehmen, Türen aufzuhalten, in Mäntel zu helfen, die Kinokarten zu bezahlen. Dr. Rainer Ehrlinger, der Ethikratgeber des SZ-Magazins, wurde von einem Mann gefragt, ob er richtig handelte, als er unter Berufung auf die Geschlechtergleichheit einer Bekannten die Hilfe beim Aufpumpen ihres Fahrradreifens verweigert habe.
Genau richtig, befand der Ethikexperte, Klischees aufrecht zu erhalten sei schließlich ein Übel und sowieso könne die Frau ruhig selber pumpen. Wie gut muss es ein geschlechtergerechter Mann haben! Er kann auf Frauenparkplätzen sein Auto parken, muss sein Geld nicht in Blumen investieren, kann zuerst aus einem brennenden Gebäude sprinten und wenn sein Schiff von einem Eisberg gerammt wird, ist es völlig in Ordnung,
Frauen und Kinder aus den Rettungsboten zu schubsen. Hey, schließlich wollen die doch auch wählen gehen und Mathe studieren!

Es wird fürchterlich anstrengend und unschön, wenn man nichts mehr tun darf, was mit einem Gechlechterklischee verbunden ist. Das habe ich bei der Schnittchenaffäre gemerkt. Bereits von zwei Bekannten ist meine Freundin dabei erwischt worden, dass sie mir ein Brot macht. Das ist ein echter Skandal, nur noch einen Schritt davon entfernt, sich die Schürze umzubinden und zu Mutter Beimer zu werden.
Diese Brote sind ein Verrat, eine Zementierung längst hinter uns geglaubter Traditionen, der Dolchstoß in den Rücken einer jeden berufstätigen Frau. „Der kann sich doch wohl selber ein Brot schmieren!“ Natürlich kann ich das. Genauso, wie meine Freundin sich selber Wasser in ihre Flasche füllen kann. Aber ich fülle ihre Flasche auf, damit sie sitzen bleiben kann. Nicht, weil sie keine Beine hätte, sondern weil es um winzige Gesten geht in einer Beziehung. Weil das Wasser besser schmeckt, wenn es einfach so neben dir steht und du nicht aufstehen musst. Weil ich dein Mann bin und dein Durst mein Feind.

Schnittchen sind im Schnitt kein Problem, das Problem ist die Wirklichkeit. Und die steht eben spätestens dann im Türrahmen, wenn ein Kind zur Welt kommt.
Wenn ein berufstätiges Paar ein Kind bekommt, steht die Frau vor folgendem Problem: Sie verdient im Schnitt 25 Prozent weniger als der Mann; hinzu kommt, dass der Mann auch dann nicht im Haushalt mitarbeitet, wenn die Frau berufstätig ist.
Die „neuen Väter“ bleiben ein urbaner Mythos.
Die Frau kann sich also ausrechnen, wie viel Zeit er mit den Kindern verbringen wird. Die Frau hat demnach die Wahl zwischen einem Dreifachjob, also Hausarbeit, Kindererziehung und Beruf zu dreiviertel der Bezüge des Mannes – oder sie bleibt zu Hause und lernt das Gesamtwerk Benjamin Blümchens kennen.

Und Halbtagsstellen?
Die sollten doch wohl eher Halbgeldstellen heißen, denn gerade höhere Positionen werden nicht gerne aufgeteilt – wo bliebe sonst auch der Spaß bei Machtspielen? – aber die Hälfte bezahlen ist schon ganz in Ordnung.

Langweilt es Sie, wenn Skandinavien dauernd als Vorbild hingestellt wird? Dann müssen Sie da jetzt durch: Schweden verhält sich beim Thema Emanzipation zu Deutschland wie Deutschland sich beim Erfinden von immer schnelleren Autos zu Burkina Faso verhält.
1974 hat Schweden das Elterngeld eingeführt, zu dieser Zeit wurden Männer in Deutschland noch angestaunt, wenn sie einen Kinderwagen vor sich herschoben und ihre Frau nicht schlugen.
In der New York Times („In Sweden, the Men can have it All“) wird die schwedische Europaministerin mit der hübschen Aussage zitiert, „Machos mit Dinosaurierwerten“ würden es nicht mehr in die Attraktivitäts-Top-10-Listen schwedischer Frauenmagazine schaffen. Was darauf hindeutet, dass man zwei Geschlechter benötigt für einen Wandel: Männer, die ihren Daseinszweck nicht mehr in einer 80-Stunden-Woche sehen und Frauen, die bei der Auswahl auf die weichen Faktoren achten wie „Hört mir zu“, „Geht einkaufen“, „Ist kein Arschloch“.

Väter, die sich eine Auszeit für ihre Kinder nehmen, sind in Schweden so üblich geworden, dass Frauen keine finanziellen Einbußen mehr hinnehmen müssen. Denn ob ein Unternehmen nun eine Frau oder einen Mann einstellt: Beide würden im Fall einer Geburt der Firma für einige Zeit fehlen.
Weil Männer ihre Vorstellung vom Mannsein längst mit dem Anschnallen eines Babybjörn überein bringen und Frauen nicht mehr zu Hause unter Windelbergen verwahrlosen und abhängig vom Taschengeld sind, sinkt sogar die Scheidungsrate. Die Liebe ist auf dem Weg der Besserung bei den Schweden.

Einer der Gründe dafür dass Frauen weniger verdienen, liegt darin, dass sie nach der Geburt eines Kindes häufiger zu Hause bleiben, was nach männlicher Logik bedeutet, dass Frauen selber schuld daran sind, wenn sie weniger verdienen. Ohne Bezahlung zwei Jobs oder bei geringer Entlohnung drei, das ist die Wahl, die Frauen haben.
Und damit bleiben sie die Packesel der Emanzipation.
Aber stürzen sich Frauen nicht sehenden Auges in die Unmündigkeit, weil sie einfach nichts studieren, was Geld und Karriere verspricht? Warum studieren so viele Frauen Floristik, Solalalogie, Saunatuchkunde und Vasenhinundherschieberei? Ich weiß es nicht.

Ich weiß bloß: Wenn sie einen Männerstudiengang belegen, wird es auch nicht leichter (wenn übrigens viele Frauen ein Männerstudium absolvieren, dann sinkt es im Ansehen und die Entlohnung in den Tätigkeitsfeldern sinkt, weil: siehe oben).
Meine große Schwester hat Maschinenbau studiert, ein Fach, von dem man damals, sie fing 1984 an, recht unverhohlen sagte, eine Frau habe da keine Chance. Und schreiben nicht Allan und Barbara Pease („Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“) Buch um Buch darüber, dass Frauen eben kein mathematisches Verständnis haben und räumliches schon gar nicht? Meine Schwester war eine von drei Studentinnen unter 1000 Männern in ihrem Studienjahrgang. Kam sie in den Hörsaal, wurde gejohlt und hatte sie einen Rock an, dann ließ man sie absichtlich über die Bänke klettern. Als sie mit einem Kommilitonen zusammen ein Projekt vorstellte, fragte der Professor anzüglich grinsend: „Was haben Sie denn dafür getan?“

Aber meine Schwester ist aus besonderem Material geschnitzt, aus echtem Ingenieursmaterial eben, und sie machte sich hervorragend. Sie veröffentlichte ein, nein: DAS Buch über Kunststoffrecycling, promovierte Summa cum Laude und holte Millionen an Geldern aus der Industrie an die Uni. Vielleicht würden Allan und Barbara Pease ja
sagen, das sei kein Wunder, schließlich sei sie als Frau eben besonders geschickt im Umgang mit Menschen – vielleicht würden sie auch einfach mal den Mund halten.
Wenn mir meine Schwester die Integralrechnung mit einem Beispiel, das ich sofort verstand, erklärt hat, während es mein Mathelehrer gar nicht erst versuchte, habe ich nie gedacht: „Klar kann sie das erklären, sie ist halt eine Frau.“
Ich dachte einfach immer, dass meine Schwester der klügste Mensch weit und breit sei.
Meine Schwester schickte sich also an, die Welt des Maschinenbaus aus den Angeln zu heben, dann bekam sie zwei Kinder und blieb daheim. Das ist, als hätte Josef Ackermann seine Karriere aufgegeben, um auf Spielplätzen rumzusitzen. Meine Schwester hatte den Ehrgeiz, den Intellekt und die akademischen Weihen, die man braucht für eine Karriere.

Aber sie wollte bei ihren Kindern sein. Es ging nicht um Geld, das war reichlich vorhanden, es wäre weder schwierig noch zu teuer gewesen, die Kinder von jemand anderem betreuen zu lassen.
Ich fand diese Entscheidung skandalös. Was für eine Verschwendung geistigen Potenzials. Genaue Kenntnis der Dramen in der 1b der Luise-Hensel-Grundschule anstelle von Revolutionen in der Kunstofftechnik?

Aber heute denke ich: Welcher Mann hätte diese gewaltigen Eier, seine Karriere einfach abzublasen? Die Geschichte meiner Schwester ist nicht symbolisch zu verstehen. Sie bedeutet nicht, dass Frauen eben einen
Brutinstinkt haben. Die Geschichte steht ganz allein für sich selbst als Geschichte einer emanzipierten Frau, die ihren eigenen Kopf hat. Schade bloß, dass so wenige Männer über ihren Kopf verfügen (wobei die meisten Frauen nicht auf spülende Daheimbleiber stehen, aber das ist eine andere Geschichte).

Jeder halbwegs emanzipierten Frau wird meine Schwester jetzt als blöde Glucke erscheinen, denn das ist ein Naturgesetz: Eine Frau kann sich nur falsch entscheiden. Die einen machen aus dem Recht auf Erwerbsarbeit eine Pflicht und wer gerne bei seinen Kindern bleiben möchte, ist eine Verräterin. Für die anderen ist jede kinderlose Frau, die Karriere macht, eine frigide Fregatte.
Dieses Naturgesetz gilt ausnahmslos für jede Frau.
Eine Frau begibt sich mit der Geburt ihres Kindes nicht einfach in ein Dilemma, sie begibt sich ins tiefe Tal der Dilemmata, dort, wo niemals die Sonne scheint und man nur noch vor sich hinstolpert.

In diesem tiefen Tal ist die Frau dann unzufrieden. „The Paradox of declining female happiness“ heißt eine Studie von Justin Wolfers und Betsey Stevenson. Frauen werden seit Jahrzehnten immer unglücklicher. Das hat Auswirkungen. Denn die Frauen versuchen natürlich, aus ihrem Unglück herauszukommen. Der beliebteste Fluchtweg ist die Scheidung. Dem statistischen Bundesamt zufolge werden 57 Prozent der Scheidungen von Frauen beantragt, „im Vergleich zu 36 Prozent bei den Männern. 7 Prozent entfallen auf gemeinsame Antragstellungen.“

Der Neuanfang führt auch für den Mann zu einem ganz neuen Leben – der Pädagoge Martin R. Textor kennt die Probleme, die mit der Scheidung auf Männer zukommen: „Da ihnen das Kochen Probleme bereitet, verschlechtert sich ihre Ernährung. Auch essen sie unregelmäßig und nehmen häufig Mahlzeiten am Imbissstand oder in Restaurants zu sich.“
Das Kochen bereitet den Männern Probleme.
Ich schreibe den Satz gleich noch einmal hin, weil er so hübsch ist.
Das Kochen bereitet den Männern Probleme.
Ich lasse Sie jetzt mit diesem Satz in zweifacher Ausführung alleine.

(Der Text ist ein Ausschnitt aus meinem Buch “Frauen und Männer passen nicht zusammen – Auch nicht in er Mitte” und ist zum Erscheinen 2010 in der Berliner Zeitung veröffentlicht worden. Angesichts dieser Statistik schien mir eine Wiederveröffentlichung sinnvoll. In der Redaktion hieß es übrigens damals, das sei doch ein Thema aus den Achtzigerjahren.)


18
Feb 13

Wir kamen aus dem Monopol – Warum Telekommunikation in Deutschland fast grauenhaft ist

Dieser Artikel ist sinnlos. Sie müssen ihn nicht lesen. Er wird nichts ändern an dem Problem, um das es hier geht.
Er ist wie das Brüllen des Säuglings einer tauben Mutter nach Nahrung. Ein instinktiver Schmerzensschrei, der ungehört verhallen wird.

Ich habe während der Recherchen von Menschen gelesen, die dem Wahnsinn nahe waren, von Menschen, die Aktionen im Internet gestartet haben, von Tobsuchtsanfällen, Drohungen, Verwünschungen. Es wurden jahrelange Verhandlungen mit Interessenverbänden geführt, Konferenzen abgehalten, es gab Gerichtsprozesse, Fernsehreihen, die sich damit beschäftigt haben, Bücher. Nichts hat sich geändert. Es ist eher schlechter geworden.

Die deutschen Telekommunikationsdienstleister machen, was sie wollen. So war es, so ist es, so wird es immer bleiben. Wurde beispielsweise 2011 noch jede zehnte Mail, die Kunden an die Unternehmen schrieben, ignoriert, war es 2012 jede fünfte.
Das ist der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Konzern und Kunde.

Die Konzerne beherrschen leidlich Routinen. Sie sind nicht vorbereitet darauf, dass etwas Unvorhergesehenes passiert. Unvorhergesehen bedeutet etwa: Ein Gerät geht kaputt, die Wohnung hat mehr als einen Raum, jemand zieht um.

Ist es also Unsinn, eine Narretei, in Deutschland umziehen und trotzdem einen Telefonanschluss behalten zu wollen?

Fast grauenhaft empfand ich meine Situtation nach meinem Umzug von Schöneberg nach Prenzlauer Berg. Das sind zwei Orte, die sich, Sie werden lachen, in derselben Stadt befinden, in Berlin, Weltstadt mit Herz, arm, aber flughafenlos, man ist hier Kummer gewohnt.

Vier Wochen vor dem Umzug meldete ich mich bei Vodafone, ich wollte von der Telekom wechseln. Jeder, dem ich von meinen Wechselabsichten erzählte, hatte gesagt, das könne nicht gut gehen, aber ich beantragte debn Wechsel und fragte die Vertriebs-Dame im Callcenter, ob ein Monat Vorlauf denn reiche, um beim Einzug sofort über einen Anschluss zu verfügen. „Das ist überhaupt kein Problem“, sagte sie. Ich zog also vier Wochen später um, blieb aber ohne Telefon und Internet.

Die Vodafone-Callcenter-Agents, die ich alle paar Tage anflehte, mir Zugang zu verschaffen, konnten mir keine Hoffnung machen. Ein paar Wochen könne das schon dauern, vielleicht einige Monate. Ich verbrachte Ewigkeiten in Warteschlangen, die Gespräche waren schnell vorbei. Da könne man nichts machen.

Erstaunlich war, dass man das Gefühl hatte, es mit einer gespaltenen Persönlichkeit zu tun zu haben. Nicht nur war alles, was vor Vertragsabschluss besprochen worden war, nun ganz anders, vor allem hatte der Ton sich vollständig geändert. Wurde im Vertrieb zunächst gesäuselt und geflötet, wurde ich nun im Amtsdeutsch abgebürstet.

Der schöpferische Umgang der Vertriebsleute mit der Wirklichkeit wird im Internet recht ungeniert „Betrug“ genannt. Abertausende Nutzer klagen in Foren darüber, die mächtigen Konzernen hätten sie über den Tisch gezogen.

Ich wandte mich, auf einem o2-Surfstick mit wenigen kb/s durch das Netz dümpelnd, auf dem Facebookprofil Vodafones an die dortigen Mitarbeiter. Ich schrieb, schon deutlich schlecht gelaunt:

„Vor 5 Wochen habe ich bei Vodafone einen Anschluss bestellt, seitdem werde ich vertröstet. Ist Vodafone ein DDR-Unternehmen?“
Wenige Stunden später schon kam eine Antwort.
„Hallo Malte, wenn Du bei Vodafone einen DSL-/Festnetzanschluss bestellen möchtest, so ist dies nur über unsere Kundenbetreuung oder vor Ort in einem Shop möglich.“

Angeduzt und verhöhnt fragte ich Freunde um Rat. Alle sagten, dass alle Konzerne so seien. Man habe mich gewarnt. Jetzt könne ich nur warten.

Die Menschen in früheren Zeiten haben eine Menge Fehler gemacht. Doch einer sticht besonders hervor. Sie bauten, um sich zu schützen, dicke Mauern. Obwohl es doch eine wesentlich effektivere Methode gegeben hätte: Sie hätten ihre Narren im Umland verteilen können, so dass vagabundierende Feinde unweigerlich genau diese Narren hätten nach dem Weg fragen müssen.
Überall wären diese Feinde gelandet, aber nicht an ihrem Ziel.
Die menschliche kulturelle Entwicklung hat von den Mauern von Ur bis heute sechstausend Jahre benötigt, bis sich endlich eine neue Methode etabliert hat.
Diesen Narrenverteidigungswall nennt man eben Callcenter.

„Internet macht Kunden mächtiger“, titelte 2010 Der Tagesspiegel, „Der Kunde ist ein Kaiser – Die neue Macht des Verbrauchers“ im Dezember 2012 die FAZ. Einen Monat zuvor sah die Wirtschaftswoche gar „Das Zeitalter der Verbraucher“ angebrochen.
Angebrochen ist eigentlich nur mein Nervenkostüm. Was ist da los? Wie kann es sein, dass riesige Unernehmen sich verhalten wie die Hütchenspieler und gleichzeitig der Glaube um sich greift, der Verbaucher habe immer mehr Macht?

Der Wirtschaftswoche zufolge liege die neue Kraft in der „exponentiellen Wirkung der Verbrauchermeinung“. Sei diese Kraft entfaltet, entstehe „ein Sturm der Entrüstung, den man heute Shitstorm nennt.“

Ja, der berühmte Shitstorm, den Unternehmen angeblich so fürchten. Der Bösewicht Bane sagt in „The Dark Knight Rises“ zu Batman, dieser möge glauben, die Dunkelheit sei sein Verbündeter. Doch er, Bane, sei geboren in der Dunkelheit, geformt von ihr.

So wenig Bane die Dunkelheit fürchtet, so wenig fürchten Telekom, o2, Vodafone und Konsorten den Shitstorm. Sie sind geboren im Shitstorm, geformt von ihm.
Woche für Woche sendete RTL in „Wie bitte?“ von 1992 sieben Jahre lang den schlimmsten Unsinn, den die Telekom verbrochen hatte, ohne Ergebnis.
Egal, was gespielt, gesendet, geschrieben wurde, alles blieb gleich. 1993 berichtete der Focus von einer Journalistin, die nach vierwöchigem Urlaub eine Rechnung über 800 DM vorfand. Weil sie wusste, dass niemand telefoniert haben konnte, verweigerte sie die Zahlung, worauf die Telekom den Anschluss sperrte. Neue Rechnungen wurden dennoch geschrieben, schließlich verfügte die Telekom, die Frau werde nie wieder einen Anschluss bekommen.

Der damalige Telekom-Chef Helmut Ricke, Vater des späteren Telekom-Chefs Kai-Uwe Ricke, war sich bewusst, dass sein Konzern beim Kundenkontakt eine Schwäche hatte.
Und nun folgt ein Zitat aus dem 20 Jahre alten Focus, bei dem man, wenn man zartbesaitet ist, möglicherweise etwas traurig wird: „Die Gewähr für Kundenfreundlichkeit, besseren Service und höhere Gewinne sieht Ricke, wie auch die Bundesregierung, in einer privatwirtschaftlichen Rechtsform für die Telekom: Aus der staatlichen Behörde soll eine Aktiengesellschaft werden.“
Springen wir von 1993, also zwei Jahre vor der Privatisierung, einer Zeit also, als ein Staatskonzern, betrieben von bornierten Beamten, seine Kunden quälte, in das Jahr 2012.
Im Juni des vergangenen Jahrs zieht Dominik Schwarz von Berlin nach Zürich. Er kündigt daher seinen Telefonanschluss bei der Telekom. Einen Monat später ruft ihn eine Rückgewinnungsbeauftragte an. Er fragt, noch im Stadium der Unschuld, ob er dies als Kündigungsbestätigung sehen könne. Sie bejaht das und ruft Schwartz von nun an beinahe täglich an, um ihn zurückzugewinnen.
Im August kommt die Augustrechnung der Telekom. Das freundliche Twitterteam von Telekom_hilft verspricht Hilfe.
Eine Woche später fragt Schwarz nach und erfährt, dass die Kündigung erst zum Februar 2014 möglich sei.
Es sei allerdings möglich, gegen Zahlung einer Ablösesumme von 250 Euro frühzeitig aus dem Vertrag auszusteigen.
Etwa zur gleichen Zeit versucht der Berlin Story Verlag, einen schnellen Internetanschluss von der Telekom zu bekommen. Nachdem der Verlag bereits 2011 siebzehn (!) schriftliche Anträge eingereicht und etwa neunzig (!) Mails geschrieben hatte, um einen Telefonschluss zu beantragen, war man sich bewusst, dass das etwas dauern könnte.
Tatsächlich schien es lange ein Ding der Unmöglichkeit zu bleiben.
Erst als der Verlagschef nach einem Jahr des stillen Kampfes auf dem verlagseigenen Blog über seine Don-Quixiotiaden schrieb, hatte eine höhere Stelle erbarmen.

Auch Schwarz entschied sich, nachdem er ein halbes Jahr mit seinen persönlichen Telekomsupportern Marco, Heike, Maria, Rolf, Petra, Romina, Oli, Raphaela und Ann-Kathrin gemailt hatte, eine private Öffentlichkeit mittels einer sehr komischen, grafisch ansprechenden Geschichte über seinen Fall zu informieren.

Innerhalb kürzester Zeit teilten 38.000 Menschen seine Geschichte auf Facebook (mittlerweile sind es 48.000) und tatsächlich meldete sich die Telekom, entließ ihn aus dem Vertrag, und verzichtete großzügig auf die Ablösesumme.

Haben Schwarz und der Berlin Story Verlag nun ihre neue Macht bewiesen? Weil sie die Möglichkeit nutzten, eine Öffentlichkeit zu schaffen, die groß genug war, dass sie nach sechs respektive zwölf Monaten Abnutzungskrieg tatsächlich das bekamen, was man eigentlich durch ein (in Zahlen 1) Telefonat für erledigt hätte halten müssen?

Triumphe sehen anders aus.

Kann es dauerhaft ein probates Mittel sein, öffentlich um Hilfe zu rufen? Ist der Fall gar zu peinlich, regulieren die Konzerne den Schaden, aber als Angst vor dem Shitstorm lässt sich das nicht deuten: Sie ändern schließlich nichts an der Struktur. Der nächste Dominik Schwarz muss schon ein Video drehen, das wenigstens ein paar hunderttausend Menschen sehen, um dieselbe Aufmerksamkeit zu erzeugen. Soll man sich denn mit Benzin übergießen, damit man einen Anschluss bekommt?

Nun kann man glauben, dies seien Extremfälle, Aberrationen, die angesichts der schieren Masse an Bearbeitungsfällen einfach vorkommen müssen.

Aber das hier sind zwar Fälle, bei denen es vielleicht überdurchschnittlich lang gedauert hat, aber das grundätzliche Muster der totalen Ignoranz auf Seiten des Konzerns, der irritierenden Informationspolitik, der schildbürgerhaften Regelungen: das ist der Standard.

Ich war so ein Standardfall. Als es nach zehn Wochen endlich einen Termin mit einem Telekomtechniker gab, fragte ich, wo denn der Router bliebe. Den habe man an die alte Anschrift gesendet. Schließlich hätte ich dort gewohnt, als ich den Anschluss in Auftrag gegeben hatte.
Ich hatte seitdem einem halben Dutzend Callcenter-Agents meine neue Adresse diktiert. Sie alle hatten vorgegeben zu schreiben, fragten beflissen Buchstaben nach („L wie Ludwigsburg?“), keiner hatte die Adresse geändert.

Es gibt grundsätzlich drei Möglichkeiten: 1. Der Mensch am anderen Ende der Leitung kann helfen (die Stiftung Warentest testete 2011 die Hotlines der Telekommunikationsanbieter: in gerade einmal 34% der Fälle wurde den Testern tatsächlich geholfen). 2. Er kann nicht helfen und sagt das. 3. Er behauptet, helfen zu können, hat aber keine Ahnung. Fall 2 ist ärgerlich, Fall 3 verheerend.

Ich versuchte, herauszufinden, warum die Dinge sind wie sie sind. Warum niemand einem helfen, niemand Entscheidungen treffen kann. Warum man sich als Kunde vorkommt, als sei man in ein Live-Rollenspiel geraten, das von Kafka konzipiert wurde.
Michael Bobrowski, Referent für Telekommunikation beim Bundesverband der Verbraucherzentrale, sagte mir, kundenfreundliche Behandlung stünde mit harten internen Vertriebsvorgaben in Konkurrenz.
2007 wollte der Verband zusammen mit den Unternehmen einen „Leitfaden für eine verbraucherfreundliche Kundenbetreuung“ erstellen. Doch neben der Telekom ließen sich kaum Unternehmen auf die Einhaltung der Regeln verpflichten.
Stattdessen wird Geld in Werbung gebuttert, um mehr Kunden zu ziehen, die man nicht zufriedenstellen kann. Alleine 30 Millionen Euro gibt die Telekom für Werbung auf den Trikots von Bayern München aus, Vodafone gehört zu den größten Anzeigenkunden im Internet.

Als ich versuche, bei den Unternehmen selbst etwas über die Missstände zu erfahren, werfen die mit PR-Projektilen auf mich.
1&1 etwa schickt mir die gleichen Wortbaukastensätze, mit denen auch die wütenden Kunden auf ihrer Facebookseite beschwichtigt werden. Standardisiert wird erklärt, die Telekom sei Schuld.
In Foren wird vermutet, dass die Telekom ihren Mitbewerbern sogar absichtlich Schaden zufügt, indem sie ihre Techniker zurückhält. Was von den Bonnern – durchaus glaubhaft – bestritten wird.
Dieses Schwarze-Peter-Spiel kann für die Kunden zur Katastrophe werden. Eine Gelsenkirchenerin wollte mit ihrem Partner – ausgerechnet – ein Callcenter gründen.
Sie bekam jedoch keinen Telefonanschluss.
Vodafone verwies auf die Telekom, an der es sei, die vereinbarten Technikertermine einzuhalten, die Telekom zuckte, so das ein magentafarbener Riese kann, mit den Schultern und beschied ihrerseits, zwischen ihr und der Frau bestehe kein Vertrag. Der Frau ist ein Schaden von 30000 Euro entstanden.

Vielleicht lässt sich die Ursache in der Struktur der Unternehmen finden.
So sagte schließlich René Obermann, der scheidende Telekom-Vorstandsvorsitzende, in einer Rede an der Universität Düsseldorf: „Wir kamen aus dem Monopol (…) Kundenfreundlichkeit hieß vor allem, dass der Kunde freundlich zu sein hatte.“
Wenn die Telekom aus dem Monopol kam und heute noch daran zu tragen hat – woher kommen ihre Mitbewerber?
Vor der Antwort eine kurze Warnung: Wenn man glaubt, der Bürgerkrieg in Mali sei unübersichtlich mit seinen vier verschiedenen Rebellengruppen, dann sollte man sich vielleicht besser nicht mit Telekommunikationskonzernen beschäftigen, sondern stattdessen mal wieder ein Buch lesen, vielleicht Ulysses oder den Mann ohne Eigenschaften, vergleichsweise leichte Kost.
Bei o2 hat man es mit der deutschen Tochter des ehemaligen spanischen Staatsunternehmens Telefonica zu tun, bei E-Plus mit der deutschen Tochter des ehemaligen niederländischen Staatsunternehmens Koninklijke PTT Nederland, nur Vodafone ist, da in Großbritannien die Privatisierung schon in den 80ern erfolgte, historisch ein Abkömmling des größten britischen Herstellers von Militärkommunikationsmitteln Racal Electronics (die deutsche Tochter ist Nachfolger von Mannesmann Mobilfunk).
Die Trägheit und die Kundenverachtung haben die Unternehmen also allesamt in der DNS, es weht der Geist der längst überkommenen Deutschland AG, in der riesige, unbewegliche Unternehmen, beherrscht von wenigen alten Männern, ihre Reviere untereinander verteilt hatten. Doch etwas kommt hinzu, das neu ist: ein überdrehter Turbokapitalismus, bei dem die Angestellten als Mitarbeiter der einen Firma ins Bett gehen und bei einer anderen Firma erwachen, bei dem Identifikation mit seinem Arbeitgeber so überkommen und weit weg scheint wie Minnegesang und Keuschheitsgürtel.
So wurde etwa HanseNet, gegründet als Telekommikationsableger der HEW (Hamburgische Electricitäts-Werke, heute zu Vattenfall gehörend), im Jahr 2000 zu 80% vom Mailänder Start Up e.biscom übernommen und 2003 an die Telekom Italia, den ehemaligen italienischen Staatskonzern, weitergereicht. Nachdem die Italiener vier Jahre später Teile von AOL Deutschland übernommen hatten, wurde HanseNet mit dem Neuerwerb verschmolzen.
Nach T-Online war Hansenet nun der zweitgrößte Internetprovider Deutschlands. Zusammen mit o2 stieg der neue Riese in den Mobilfunk ein. o2 war seinerseits aus Viag Interkom hervorgegangen, einem Mobilfunkunternehmen, das von Viag, dem heutigen E.on, der BT Group (dem 1984 privatisierten britischen ehemaligen Staatsunternehmen) und der Telenor, dem damaligen norwegischen Monopolisten, 1997 geschaffen worden war. 2005 ging o2 von den Briten zu den Spaniern von Telefonica, 2010 verkaufte die italienische Telekom HanseNet an Telefonica, den spanischen ehemaligen Staatskonzern, und HanseNet wurde Teil von o2.
Testfragen: Mit wie vielen Unternehmen durfte sich ein Angestellter, der bei Viag Interkom angeheuert hatte, seitdem identifizieren und welche Sprache spricht man in der Firmenzentrale von AOL Deutschland?
Bei der Telekom war das Chaos hausgemacht. Nach Ron Sommers Vier-Säulen-Strategie, die zum Ziel hatte, vier verschiedene Konzernbereiche einzeln an die Börse zu bringen, wurde von seinen Erben munter reintegriert, verschoben, neu zusammengesetzt, als sei die Telekom ein gigantischer Legobausatz.
Das Hin und Her an der Unternehmensspitze setzte sich im mittleren Management fort. Alle zwei Jahre gaben sich Helikopter-Manager die Klinke in die Hand. Sie landeten mit großem Getöse, wirbelten Staub auf und starteten senkrecht nach oben.
Bis heute ist es nicht gelungen, den Callcenter-Agents der Telekom eine nutzerfreundliche EDV zur Verfügung zu stellen, die Teams sind zu groß, die Maßnahmen der Manager nicht auf die Telekom-Wirklichkeit abgestimmt.
Einmal sollen alle Agents Generalisten sein, dann wieder Spezialisten.

Die Callcenter gelten den Managern als nicht wettbewerbsfähig. Sie sind zu teuer, weil man mit zwangsversetzten Altmitarbeitern, etwa ehemaligen Fernmeldetechnikern, die nach Tarif bezahlt werden, die Callcenter bestückt. Und billig ist das neue Schwarz.

Nun könnte man sagen, dass der Kunde selber schuld sei. Indem er sich zielgerichtet immer für das billigste Angebot entscheidet, jagt er die Konzerne in einen ruinösen Dumpingwettbewerb, den nur der gewinnen kann, der rigoros alle Kostenfaktoren ausmerzt. Da ist auch etwas dran. Aber der Kunde hat zwar eine Unzahl von Angeboten, jedoch keine Wahl.
Kaufe ich etwa Kleidung oder Möbel, so kann ich – verfüge ich über die finanziellen Möglichkeiten – wählen, ob ich in einem kleinen von einem Enthusiasten geführten Laden ein zeitloses Produkt von hoher Qualität kaufe oder in einer Kette schnell vergänglichen Ramsch, von dem ich weiß, dass er nicht allzu lange halten wird, aber der ein Zehntel des Premiumprodukts kostet.
In der Telekommunikationswelt sind die Produkte dagegen homogen, Vodafone-DSL und o2-DSL unterscheiden sich so wenig wie Shell-Benzin und Aral-Benzin. Gebe ich mehr Geld aus, bin ich auf einen Marketingtrick reingefallen.
Es gibt keine Premiumprodukte, alleiniges Merkmal ist der Preis. Und egal, was in Antrittsreden von neuen Vorständen erzählt wird: Hohe Gewinne durch niedrige Preise sind das alleinige Unternehmensziel.

Das einzige Problem bei diesem Ziel ist der Kunde. Aber gegen den hat man eine brilliante Abwehrstrategie. Eben den Narrenverteidigungswall namens Callcenter.
Es sitzen dort bei der Telekom also unmotivierte, chronisch erschöpfte, übermüdete Menschen vor Computern, deren Software einen Großteil ihrer Aufmerksamkeit fordert. Kein Wunder eigentlich, dass die dem Kunden nicht helfen können.
Natürlich sind sie keine Narren, sie haben nur oft gerade von der Materie, die sie beackern sollen, keine Ahnung. Für Fortbildung ist kein Geld da.
Und doch sind diese Telekom-Mitarbeiter laut Stiftung Warentest die besten. Immerhin verdienen sie auch ordentlich, können Pausen machen, haben Recht auf Urlaub.
Die Konkurrenz arbeitet dagegen gerne mit Zeitarbeitern, die sie in 5-Stunden-Schichten gnadenlos verheizen, 7 Euro verdienen die pro Stunde, jeder zwölfte muss zusätzlich noch Hartz IV bekommen, die Verweildauer im Unternehmen ist kurz, die Bezahlung miserabel.
Das Telekom-Management aber ist unzufrieden: Die Kundenzufriedenheit ist zu teuer. Wo es geht, wird outgesourcet.
Nach einem Übergangsjahr, in dem der Lohn weitergezahlt werden muss, wird dann der Lohn gedrückt.
Deutlicher kann ein Unternehmen kaum zeigen, dass Service ihm egal ist.

Besonders die strukturschwachen Bundesländer, also gerade die ostdeutschen und Berlin, aber auch das Saarland und Nordrhein-Westfalen, fördern die Ansiedlung von Callcentern mit Millionensummen. Läuft die Förderung aus, schließen die Callcenter.
Fördergeldtourismus nennt man das.
Eine Branche, die hunderte von Millionen für Werbung ausgibt, bekommt Jahr vor Jahr mehrere Zehnmillionen von sowieso schon klammen Bundesländern, um Jobs zu schaffen, die zum Teil durch Hartz IV mitfinanziert werden müssen.

Vodafone und o2, E-Plus und die Telekom, alle vier Giganten geben Callcenter und Logistik an den Outsourcing-Dienstleister Arvato ab. Der gehört Bertelsmann. Da ist sie wieder, die Deutschland AG.

Gibt sich auch die Bertelsmann-Chefin und Milliardärin Liz Mohn gern als Philantropin, merken die, die am anderen Ende der Bertelsmannnahrungskette stehen, wenig davon.1050 Euro Brutto verdient ein neuer Callcenter-Agent bei Arvato, wenn er 42 Stunden in der Woche arbeitet, der Job ist so strapaziös und die Fluktuation so hoch, dass 300 Euro Prämie gezahlt werden, wenn ein Mitarbeiter einen anderen wirbt, der es wenigstens sechs Monate erträgt.
Obermann sagte, es sei eine große Herausforderung, die Mitarbeiterzahlen zu senken und dabei kundenfreundlicher zu werden. Eine Herausforderung, an der er, was er nicht sagte, wie alle vor ihm gescheitert ist.

Gerichte werden lahmgelegt, Verbraucherzentralen können sich um nichts anderes mehr kümmern, Werte wurden vernichtet, Kunden in den Wahnsinn getrieben. Die Bilanz der Privatisierung ist, dass der Kapitalismus da, wo er keine Fesseln mehr trägt, am selben Punkt anlangt, wo der Kommunismus längst war: Bald wartet man auf seinen Anschluss so lange wie in der DDR auf den Trabant. Es wird Macht angehäuft und Planvorgaben werden erfüllt, aber Mensch und Produkt finden nicht mehr zusammen. Der Kunde ist zuletzt eine verzichtbare Variable, seine Unterschrift wird noch benötigt, nicht aber seine Zufriedenheit.
Darauf zu hoffen, dass der Markt diese Probleme reguliert, hieße darauf zu hoffen, dass die großen Tabakfirmen eine Zigarette erfinden, die Krebs heilt.

Darf ich diesen Moment der Aufmerksamkeit dazu nutzen, Vodafone zu bitten, mir die zugesagte DSL-Geschwindigkeit zu verschaffen?

Der Text ist am 16. Februar im Magazin der Berliner Zeitung erschienen und ebenfalls über die App der Berliner Zeitung erhältlich.


30
Jan 13

Von der Freiheit

Eine Szene in jeder Bar an jedem Abend in jeder deutschen Großstadt. Der erste Schritt ist schwierig. Hat sie Interesse? Oder ist sie bloß höflich? Warte ich schon viel zu lange? Oder gehe ich besser?
Seitdem offiziell beide Geschlechter den ersten Schritt machen dürfen, kann ein Date sich schnell anfühlen wie das Gefangenendilemma. Man kann nicht wissen, was der andere will, wer sich festlegt, verliert erst die Optionen und dann sein Gesicht.

Derweil in einer Parallelwelt, die mit unserer zunächst einmal nichts zu tun hat. Deutschland sucht den Superstar.
Die Kamera saugt sich an dem Ausschnitt der Kandidatin fest, Juror Mateo, Sänger der Band Culcha Candela, fragt:
„Sind die echt?“
Die Kandidatin ist sichtlich irritiert.
„Was?“, fragt sie.
„Die Haare.“
„Keine Extensions, alles echt.“
„Und der Busen?“
„Ja, der ist echt.“
„Schön.“

Die Stimme aus dem Off erklärt mit der RTL-typischen Brachialironie: „Da achtet die Jury natürlich nur so genau drauf, weil die Oberweite ja ein wichtiger Resonanzkörper beim Singen ist.“

Die rein männliche Jury sitzt und glotzt.
Während junge Frauen beim Umziehen gezeigt werden (im Vorbereitungsraum ist eine Überwachungskamera installiert), sagt Dieter Bohlen, das internationale Zeichen für „riesige Brüste“ gestikulierend: „Die kann ja irgendwie als Kölner Dom mit ihren Glocken auftreten.“ Eine Montage tanzender Brüste, dazu fragt Tom Kaulitz: „Das magste auch richtig gern?“ Bohlen antwortet: „Besser als so’n Bügelbrett.“ „Ja, das stimmt.“

Zu der gesungenen Zeile „I just wanna make you sweat“ eröffnet wieder Mateo einer Kandidatin:
„Ich finde dein Dekolleté wunderschön. Ich würde mich da total gerne reinlegen.“

Nina Pauer müsste ihre helle Freude an dem kahlköpfigen Mittdreißiger Mateo haben. Vor einem Jahr landete die ZEIT-Autorin mit ihrem Text „Die Schmerzensmänner“ einen Klick-Hit. Das halbe deutschsprachige Netz diskutierte über introvertierte Jungs, die nicht mehr baggern können. „Statt fordernd zu flirten, gibt er sich als einfühlsamer Freund“, schrieb Pauer über den jungen Mann von heute.
Nichts mehr in ihm erinnert an die Machos von früher. Er ist „gepflegt und gewaschen, benutzt Parfums und Cremes, macht Diäten und hört wunderbar melancholische Mädchenmusik.“ Das Problem beginne, „wenn der entscheidende move gefragt ist, er sich herüberbeugen und die junge Frau endlich küssen sollte“. Dann blockiert der junge Mann. Stattdessen nur viele ängstliche Fragen im Kopf.

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