1984

Manchmal stelle ich mir vor, wie es gewesen wäre, wenn in meiner Kindheit Sondereinsatzkommandos mein Zimmer gestürmt hätten, um Leerkassetten zu beschlagnahmen.
1984, da war ich 10 und saß Samstag für Samstag vor dem Radio, um die Schlagerrallye mit Wolfgang Roth aufzunehmen. Manchmal spielte Roth rare Maxi-Versionen von Depeche-Mode-Hits und redete auch nur ganz wenig rein.
Wenn er bei “The Sun always shines on TV” in das unendliche Ende hineinsagte: “Die Platte mit dem unendlichen Ende” und ich den Satz auf meinem Sony-Walkman somit einige hundert Mal anhören konnte, dann wurden die Worte auf seltsame Art mit der Zeit Teil der Musik. Viele Lieder höre ich bis heute im inneren Ohr mit Roths Stimme.

1984 war auch das Orwell-Jahr und deshalb las ich etwas zu früh von einer stalinistischen Utopie, in der jeder bei jedem Schritt, den er tat, überwacht wurde von wohlmeinenden Kulturbewahrern.
Das war sehr fern von meiner mollig warmen Kindheitshöhle mit Roths beruhigender Stimme.

Für mich im Nachhinein bestürzend, dass niemand mich angezeigt hat. Ich war schließlich daran beteiligt, unsere Kultur zu zerstören.
Depeche Mode müssen heute noch touren und konnten sich zwischenzeitlich sogar kaum noch Heroin leisten, von a-ha gar nicht zu reden und was macht eigentlich Mike Oldfield? Ist der schon verhungert?
Und erst die ganzen kleineren Projekte, deren Karriere ich zerstört habe: The Art of Noise, OMD, ELO – den jungen Grönemeyer habe ich im Alleingang ausgelöscht.
Spätestens als ich eine Anlage von Universum hatte mit High-Speed-Dubbing war ich eine kriminelle Organisation. Ich konnte Klassenkameraden Kassetten zusammenstellen, ich war eine Ein-Mann-Piratenbucht, Genesis hörten meinetwegen auf, Phil Collins stellte gar sein Wachstum ein, INXS fehlte die Luft zum Atmen, denn ich kopierte und vervielfältigte, die Klangqualität wurde besser, Dolby, Chrombänder, die Klassenkameraden kopierten nun manchmal sogar ihre Schallplatten und so wurde aus einem Namenstagsgeschenk (Chartbreaker Super Hits) zwanzig Kassetten und Mick Jagger und David Bowie sahen wirklich schlecht aus.

Hätte man mich bloß überwacht.

15 comments

  1. Sind diese Verbrechen denn bereits verjährt? Oder wird Dir die GEZ das Radio entziehen und die Musikindustrie Dir ein mp3-Verbot erteilen?

  2. Klebe Dir vorsichthalber besser mal ein STOPP-Schild auf den Monitor! Mittig! Vielleicht gilt dann Gnade vor Recht.

  3. “…dann wurden die Worte auf seltsame Art mit der Zeit Teil der Musik. Viele Lieder höre ich bis heute im inneren Ohr mit Roths Stimme.”

    so true… :-)

  4. [...] [...]

  5. und das Gruselige: Je mehr Tapes von damals verschwinden (im Kabelsalat oder der Müllverbrennung) desto mehr Zombies kehren als gealterte Abziehbilder unserer damaligen Helden wieder zurück und begegnen uns in Hitchartshows oder Bierzelten. Ein Fluch verarmt gestorbener Musiker?

  6. Kann sich hier einer noch dran erinnern, daß Leerkassetten zu DDR-Zeiten 20 Mark gekostet haben und an High-Speed-Dubbing nicht zu denken war? Mein Bruder hat sich zur Jugendweihe 1986 einen Kassettenrekorder mit dem klangvollen Namen SKR 700 gekauft. 1500 Mark war ihm das Teil wert. Ein durchschnittlicher Monatslohn lag bei etwa 600 Mark, glaube ich. Der Apparat hat die DDR spurlos überstanden und der Sound kann es noch heute mit manchem Westrekorder aufnehmen. Mensch, waren das Zeiten!

  7. LOL! Zu diesem Thema habe ich mal ein ganz wildes Streitgespräch geführt, bei dem es fast zu Handgreiflichkeiten gekommen wäre (ist mir hierdurch wieder in Erinnerung gekommen). :D
    Mein Kernargument war es damals auch, dass die Medienindustrie schon in den 80ern sagte (das gleiche Argument wie heute), Videorekorder und Kassetten würden sie zerstören (während es stattdessen natürlich zu einer drastischen Expansion kam…) und das die Medienindustrie heute mit ihren Kontrollversuchen nicht einfach nur in die internetlose Welt der 90er, sondern sogar viel lieber noch in die der 70er zurück will. In eine Zeit, wo es kein gemeinsames (=Kommunismus) Anschauen vor dem DVD Player gab, wo nur eine Person bezahlt und mehrere trotzdem die Inhalte zu sehen bekommen (Neuerung der 80er), sondern wo Filme im Kino geschaut werden mussten, wo eben pro Zuschauer eine Karte gezahlt wird.
    Meine Gegenüber (Plural) reagierten als hätte ich deren Mutter beleidigt oder sowas. :D
    Auf meine Frage, warum eigentlich Unbeteiligten die ungeteilte Kontrolle der Medienindustrie über diverse Inhalte so extrem wichtig ist, habe ich wieder einmal keine Antwort bekommen. Wie schade! Meine Fragen müssen total schräg sein, weil ich verbleibe immer mit mir unerklärlichen Rätseln.

  8. Radiorecorder…

    http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/4030/einmal_ohrenschmaus_zum_mitnehmen.html

  9. Mike Oldfield hättest Du nicht ruinieren müssen, der wurde schon von seiner Plattenfirma gef***t. Aber hat er sich dann nicht mit drei Jahren “Moonlight Shadow” in der Rallye gerächt?
    (Ich hab noch Massen von “Schwingungen”-Cassetten mit Winfrid Trenkler, DEM Krautrock-Experten, er duzte sie alle. Ein Mensch, der längere Anmoderationen als anschließend gespielte Synthiemusik machen konnte – und das will bei dieser Musikgattung schon was heißen.)

  10. Eine Universum-Kompakt-Stereoanlage hatte ich auch. Doppeltape, Plattenspieler, Radioempfang.

    Wer braucht schon blip.fm.

  11. Mockingbird » Archiv » Look Beyond LXII

    [...] Was Malte so 1984 (super Jahrgang, nur so nebenbei bemerkt) gemacht [...]

  12. “INXS fehlte die Luft zum Atmen”

    Also DAS war jetzt ja mal ne ganz böse Anspielung ;p

  13. Riff, Flipzeit, Schlagerrallye – du warst nicht alleine, ich habe sie auch alle gemolken. Sogar “Legs” von Art of Noise sollten sie für mich ohne die Veranstaltungshinweise spielen…und das Beste: Sie haben es tatsächlich getan.

  14. Also gemessen daran war ich 1984 sicher schon Staatsfeind No1.
    Ich verfügte schon über eine sündhaft teure Schneider Anlage in Komponentenbauweise und das Tapedeck meiner Eltern stand in Folge des Kaufs nurmehr bei mir. Sie brauchten es eh nicht mehr, da fortan das Haus aus meinem Zimmer rund um die Uhr dauerbeschallt wurde. Na gut, ich war auch schon 14 und die Konfirmation ermöglichte diesen erste Hifi_boliden, den ich exakt 2 Jahre später wieder ersetzte. 10erpacks Kasstten kamen nicht in Frage, kleinste Abnahmemenge 1 Karton, dafür brauchte ich dann auch nur noch 1 Mal pro Tag welche kaufen. Auch die Händler für Tapedecks profitierten gut an mir, das Zimmer voller Decks und regelmäßig heruntergeschliffene Tonköpfe.
    Phil Collins hat seinen Wachstum übrigens auf meine Ansage hin eingestellt, da ich ihm, während einer Audienz, die ich ihm gewährte, klar machte, dass ich mein Klientel nicht weiter mit Werbehäppchen seines Materials versorgen würde und er sah direkt ein, dass damit quasi halb Deutschland seine Existenz nicht mehr wahrnehmen würde.
    High-Speed-Dubbing war übrigens trotz des größeren Durchsatzes immer inakzeptabel, denn mein Klientel verlangte nach Qualität.

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