Der Hoden lebt

Die meisten Männer haben zu ihrem Geschlechtsorgan ein anderes Verhältnis als zu ihrer Leber oder ihrer Milz (die so eine Art Geheimorgan ist; was sie macht und wo sie sitzt, ist der Bevölkerungsmehrheit unbekannt, man könnte sagen, die Milz ist dem Aufsichtsrat der Hypo Real Estate vergleichbar, hätte sie nicht am Ende doch eine Funktion, aber wir schweifen ab), da erzähle ich nichts Neues. Wir verbinden mit ihm angenehmere Erinnerungen, es ist stets sichtbar, und auch wenn nur wenige den einzelnen Teilabschnitten Namen geben, so reagieren wir doch in der Regel auf Gefühlsschwankungen unserer Intimzone mit großer Empathie.
Zum Beispiel ich: Ich brauche nur das Wort Knoten zu hören, sagen wir in “Verkehrsknoten”, und spüre ein Ziehen im Ei, am allerhäufigsten im rechten.

So kommt es also vor, dass ich mich beim Urologen wiederfinde. Urologen sind ein spezielles Völkchen, selbst unter dem sowieso schon speziellen Völkchen der Ärzte nehmen sie eine Sonderstellung ein.
Zwischen priesterlicher Würde und pornographischer Detailverliebtheit oszilliert ihr Charakter, immer getragen von großem Verständnis für uns ängstliche Beuteltiere, die starkes Geschlecht nur genannt werden von Personen, die noch nie mit einem von uns zusammen gelebt haben.

Gestern also wieder einmal. Ich schildere kurz die Eindrücke, die ich von meinen Hoden in jüngerer Zeit gewonnen habe und charmant lächelnd weist der Arzt darauf hin, dass ich in meinem Alter in der Hauptrisikogruppe für das Unaussprechliche sei.
Als wäre mir das nicht bewusst! Gerade jetzt, da mein Vergnügungsorgan langsam auch als Fortpflanzungsorgan interessant wird, bin ich Mitglied einer Risikogruppe.

Mein Arzt, eine Mischung aus Luis de Funès und dem späten Richard Chamberlain, zieht sich Gummihandschuhe an, ich ziehe meine Hose ein wenig herunter, “Ganz herunter, bitte”, sagt er.
Dann beginnt er mich abzutasten. Ich muss meinen Bauch nach außen drücken.
“Husten!”, sagt er und ich stehe da und kann nichts anderes denken als: Was, wenn er jetzt sagt: “Wir haben ein Problem”?

Ich kenne die Überlebensraten bei Hodenkr*bs, natürlich, aber ich weiß auch, wie ich Verpackungsbeilagen lese: Ich müsste eine Chemotherapie vermutlich schon bei einer Aufklärung über die Nebenwirkungen abbrechen.
Wenn er jetzt etwas fühlt, wenn er unsicher nachtastet, sich räuspert, mehr Untersuchungen machen will, dann war es das für mich: Dicke Babies, Schultüteninhalte wegessen, einen Fußballstar aufwachsen sehen und eine Chemienobelpreisträgerin – das bliebe alles Träumerei.

“Wir machen noch einen Ultraschall”, sagt er und ich frage: “Ist denn alles in Ordnung?” und er sagt: “Alles wunderbar” und ich bin für einen Moment nur Freude. Gepaart mit ein wenig Schmerz, denn Urologen gehen mit Hoden um wie dem Vernehmen nach Frauenärzte (hier gerade die weiblichen) mit Vaginen oder Tierärzte mit Kaninchen: mit einer erstaunlichen Robustheit, wo man selbst doch eher mit dem Feingefühl eines Glasbläsers vorginge.

Nun erzählt mein Arzt mir von Patienten, die gar nicht wissen, dass da etwas sein könne und viel zu spät kommen und sagt, ich müsse da einfach nur regelmäßig abtasten.
Zu seltene Selbstuntersuchung wird man mir zuletzt nachsagen können, wenn ich auch eher vorsichtig mit der Fingerspitze taste wo der Arzt quetscht und drückt, aber: “Ich weiß nie so recht, wie sich das anfühlen soll, denn das ist es ja gerade: Die fühlen sich sowieso ständig unterschiedlich an.”

Er strahlt mich an: “Der Hoden lebt eben! Und so soll es ja auch sein.”

Als ich mich wieder angezogen habe, werfen wir noch ein paar Zahlen hin und her.
Ich sage, dass Hodenkr*bs so selten ist, dass jeder Urologe nur durchschnittlich einmal im Jahr einen Fall hat und er sagt, das käme für Berlin ungefähr hin, er habe aber im vergangenen Jahr drei Fälle gehabt und in diesem schon einen. Gerade erst sei ein 31jähriger Schauspieler von seiner Freundin zu ihm geschickt worden.

“Zwei Zentimeter, konnte man einfach wegmachen. Das ist alles gut behandelbar”, er hebt die Stimme mahnend an, “wenn man früh kommt. Aber Vorsorgeuntersuchungen haben überhaupt keinen Sinn. Hodenkr*bs wächst so schnell, da kann man jetzt nichts finden und in zwei Wochen haben Sie den.”

Ich spüre ein Ziehen in den Hoden, rechts wie links. Zwei Wochen.
“Die Zwei, die wir im Jahr verlieren, verlieren wir an die Nebenwirkungen der Behandlung. Lungenembolie und so Sachen.”
Ich schwitze ein wenig, er sieht vergnügt kämpferisch aus und ich fühle mich, obwohl dem Tod von der Schippe gesprungen, bedroht.

“Und wann entwachse ich der Risikogruppe wieder?”, frage ich.
“So mit 40.”
“Dann komme ich in die Risikogruppe für alles andere.”
“Dann kommt der Prostatakr*bs. Da lohnt dann die Vorsorge, der wächst langsam.”
“So langsam, dass man manchmal sogar mit ihm leben kann, habe ich gelesen.”
“Ja, aber wenn Sie den mit 60 bekommen, dann kommt der auch noch zur vollen Entfaltung.”

Es ist aussichtslos. Will ich das ewige Leben versprochen bekommen, muss ich Katholik werden.
Aber jetzt sterbe ich noch nicht. Ich trete vor die Tür, sauge Luft in meine lebendigen Hoden und freue mich auf den Abend der Preisverleihung in Stockholm.

20 comments

  1. scheint ja ein Thema zu sein, dieser tage. hier aus einem anderen Blickwinkel: Die Hoden sind unser Unglück. Ob Katholik werden vor Hodenkrebs schützt? Gibt es Daten zur Korrelation von Krebsrisiko und sexueller Aktivität?

  2. Ich fand die Wahl von, ausgerechnet, “Glasbläser” im Zusammenhang mit Geschlechtsorganen bemerkenswert, aber das sagt wohl mehr über mich als diesen Text aus.

  3. Den Plural von Vagina kannte ich noch nicht. Danke. Ansonsten hatte ich gerade das Verlangen abzutasten. Aber im Büro. Nee. Was soll man denn da fühlen?

  4. Da zieht es einem ja schon beim Lesen teilweise alles zusammen.
    Aber schöb, wenn man noch Luft in seine lebendigen Hoden saugen kann. ;)

  5. Kommt ne Frau aus m Supermarkt und geht nachhause. Auf dem Weg steht plötzlich ein Exhibitionist vor ihr und entblößt sich. Die Frau sagt: “Ach, jetzt fällt mir endlich wieder ein was ich noch einkaufen wollte: ich hab die Shrimps vergessen!”

    das fiel mir nur noch so zum Thema ein.

    Zum Glück bin ich noch so jung, dass bei mir noch der Hodenabstieg bevor steht (ab der 5. Embryonalwoche).

    jetzt muss ich dauernd an meinen Hoden denken. Ich glaub aber schon dass mit dem noch alles ok ist.

  6. müsste der plural von vagina nicht vaginae sein? oder doch vaginen weil eingedeutscht?

    ansonsten: sehr schöner text, kann auch mitleiden nach meiner Hoden OP – hatte nämlich ein hier nicht angesprochenes Problem: Wenn der Liebe Onkel Urologe ein Knötchen findet – egal ob im Endeffekt harmlos (wie bei mir,Zyste) oder nicht (Krebs) – muss immer aufgeschnitten werden und per Pathologie der Krebs ausgeschlossen werden…schöne Scheisse jetzt hab ich ne 3 cm große narbe im Leistenbereich….

  7. Es fehlt noch der Gang zum Proktologen. Auch der Mastdarm birgt nämlich erstaunliches Spontanerkrankungspotential. Bei schlimmen Fällen droht strukturelles Versagen des Rektums mit der Notwenigkeit eines künstlichen Darmausgangs. Dagegen ist dann eine Skrotumvollamputation fast wie Urlaub.

  8. Eieieiei! Tastet man das als Kerl nicht ständig ab? Man kann es ja auch anderen überlassen, muß ja nicht der Onkel Doktor sein;-)

  9. Aber einen Urologen sucht man doch nur auf, wenn Symptome auftauchen? Mir käme es nicht in den Sinn zu einer Vorsorgeuntersuchung zu gehen.

    Ich denke ganz oben auf der Ärzte-Angst-Hassliste stehen Zahnärzte. Einfach mal *räusper* Zahnarzt + Arschloch googeln. Wobei nun Zahnärzte am wenigsten etwas dafür können, dass sich Zahnnervschmerzen ziemlich weit oben auf der Schmerzskala wiederfinden.

  10. Tja, Euch die Hodenängste, uns die Brustängste …

    immer getragen von großem Verständnis für uns ängstliche Beuteltiere, die starkes Geschlecht nur genannt werden von Personen, die noch nie mit einem von uns zusammen gelebt haben.

    FTW! ^^

  11. Lautet der Plural nicht “Vagini”?

  12. Diese vermeintlichen “Knötchen”, das hast Du hier den weiblichen Fans verschwiegen, sind meistens Krampfadern. Sagte zumindest mein Urologe. Kommt vom Rumsitzen vor dem Computer.

  13. @ W.Allen
    da war ja nichts. einbildung. herrliche, gesunde, unverkrampfte hoden.

  14. Hey wow, das war schnell. Sitzt Du etwa die ganze Zeit vor dem Computer?

  15. @mc winkel: nee…vagina ist ja weiblich…äh vom geschlecht…also SPRACHgeschlecht..mist, stecke im moor der doppeldeutigkeiten -

    egal kurzum:
    vaginae = nur fachsprachlich
    vaginas = umgangssprachlich

    http://de.wiktionary.org/wiki/Vagina

    ham wir wieder was gelernt…

  16. @rio
    und der gebräuchliche plural ist: die vaginen

  17. die vaginen?!? wie strang ist das denn? hört sich wie ein Bandname an…”und hier kommen Johann Albrecht und seine Vaginen aus Berlin!”

  18. Oha! Das ist sie tatsaechlich. Schnell mal in der Wikipedia nachgeschlagen und die Wissensluecke gefuellt.

    Weiss jetzt auch was Milz auf Englisch heisst. Das war eine Ueberraschung.

  19. Hm, irgendwie ist im Vorkommentar von mir eine Zeile verschluckt worden. Ich beziehe mich auf die Milz als Geheimorgan.

  20. Geheimorganisation

    Hand vom Sack

    Es ist verboten
    mit den Pfoten
    an den Hoden
    rumzuknoten

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