Bei Anne Will sprach gestern der ehemalige Kopilot der Landshut Jürgen Vietor darüber, warum er sein Bundesverdienstkreuz anlässlich der Freilassung von Christian Klar zurückgegeben hat. Peter Scholl-Latour äußerte sein Verständnis und sagte, würden unsere Gesetze es erlauben, hätte er auch gegen die Todesstrafe für Klar nichts einzuwenden, worauf Vietor sagte, die Todesstrafe sei ja noch human, er müsse schließlich auch bis zum Ende seines Lebens unter den Taten der Terroristen leiden, ebenso die Opfer Klars, also solle auch dieser nichts als Gitterstäbe sehen bis zu seinem Tod.
Dem ehemaligen Innenminister Gerhart Baum war es sichtlich unangenehm, auf das Grundgesetz zu verweisen. Basierend auf unserer Verfassung hat das Bundesverfassungsgericht 1977 festgelegt, dass „zu einem menschenwürdigen Strafvollzug (gehört), dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich eine Chance verbleibt, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden.“
Aber nachdem man zuvor in Spielfilmlänge gesehen hat, wie die Geiseln in der Landshut behandelt wurden – und das lediglich, weil sie Mittel zum Zweck waren, die RAF-Terroristen der ersten Generation freizupressen – ist die Menschenwürde von Christian Klar nichts, womit man die Liebe des Saalpublikums gewinnt. Ein Opfer hat jedes Recht, Vergeltung zu fordern. Dieses Verlangen nach Rache ist zutiefst menschlich.
Schimpansen üben keine Vergeltung. Die Verhaltensforscherin Jane Goodall beobachtete mehrere Kindstötungen durch die beiden Weibchen Passion und Pom. Die Tötung ihrer Kinder führte bei den betroffenen Weibchen zu höchster Erregung, die jedoch nicht lange anhielt. In einem Fall umarmte die Mutter, die ihr Kind gerade verloren hatte, eine der Aggressorinnen sogar beschwichtigend, nachdem der erste Erregungsschub abgeklungen war.
Das Strafrecht übt sich jedoch nicht in Opfertherapie. Das Strafrecht will Rechtsfrieden herstellen. Und zu diesem Rechtsfrieden gehören eben auch der Täter und seine Angehörigen.
An mich werden hier ja immer wieder mal Gewissensfragen gerichtet. Gerade erst wieder wollte mspro wissen, ob ich ein prinzipienfester Pazifist sei.
Ich habe mich natürlich schon häufiger, wie wahrscheinlich jeder, gefragt, was ich tun würde, wenn jemand meine Freundin töten würde. Tatsächlich komme ich bei dieser Überlegung nicht sehr weit. Erstaunlich viele Eltern von ermordeten Kindern äußern, anders als man denken würde, gar nicht den Wunsch nach möglichst grausamer Vergeltung. Die Trauer ist oft viel stärker als die Rachsucht. Es könnte also gut sein, dass ich mir resignierend sagen würde: „Dadurch wird sie auch nicht wieder lebendig.“
Denn das ist ja der eigentliche Wunsch von Opfern: Dass die Tat nie geschehen wäre. Und daher kann das Recht immer nur Krücke sein, da es genau das nicht leisten kann. Die Naturalrestitution ist leider nur in einigen Fällen der Sachbeschädigung möglich.
Würde aber der Zorn über die Trauer siegen und ich würde den Täter zur Strecke bringen – dann wäre der Schmerz groß in der Familie des Täters, der jetzt Opfer wäre und jemand aus dieser Familie würde sich möglicherweise an mir rächen. In Albanien zum Beispiel geht man heute noch so vor. „Heute sollen – je nach Quelle – wieder bis zu 15.000 albanische Familien in Blutrache-Konflikte verstrickt sein, die zum Teil auf Vorfälle vor dem Zweiten Weltkrieg zurückgehen.“
(Und all das könnte ebenso gut geschehen, würde jemand meine Freundin fahrlässig töten, bei einem Autounfall, Rachsucht neigt eben nicht dazu, sich um juristische Detailfragen zu kümmern.)
Nun sind wir von den Zeiten der Fehde ja weit entfernt, aber ist es nicht zumindest denkbar, dass die Tatsache, dass Klar eben nicht einfach hingerichtet wurde, die Unterstützerszene befriedet hat? Die Herstellung des Rechtsfriedens beinhaltet, dass ein Urteil von allen mittelbar und unmittelbar Betroffenen akzeptiert werden kann. Das heißt, dass absurd milde Strafen abgelehnt werden müssen, aber eben auch allzu harte.
Abgesehen von diesen recht elementaren und simpel gestrickten Überlegungen sind Strafen mit Augenmaß natürlich auch Opferschutz. Denn würde man drakonisch strafen (immer wieder gibt es in den USA Bestrebungen, auch für Sexualstraftaten die Todesstrafe einzuführen), hätte der Täter allen Grund, jeden Zeugen seiner Taten zu töten. Oder wie im Fall der Landshut: Wenn sowieso die Todesstrafe auf einen wartet, sprengt man sich möglicherweise eher in die Luft (denn auch das wurde zumindest im Film deutlich: die Entführer zögerten selber die Sprengung hinaus, weil sie am Leben hingen).
Und eben auch: Selbst Christian Klar und selbst ein sadistisch motivierter Kindermörder fallen nicht aus dem Geltungsbereich des Grundgesetzes heraus. Gerade weil wir von Natur aus grausamer, hinterhältiger und rachsüchtiger sind als jedes andere Tier, schützen wir uns selber vor unseren niedersten Trieben, indem wir jeden Menschen unter diesen besonderen Schutz stellen: Seine Würde ist unantastbar. Sogar wenn er alles dafür getan hat, eine Schande für seine Art zu sein.
Strafrecht und seine Vollstreckung genügen nicht dem Bauchgefühl und sind mit Sicherheit nicht dazu geeignet, dem Opfer eines Verbrechens den Schmerz zu nehmen. Die Justiz hat eine lange Entwicklung hinter sich bringen müssen, um zu erkennen, dass auch Mörder Menschen sind. Dass auch Mörder Menschen sind, ist ein Satz, der sich wahnsinnig leicht hinschreiben lässt, und den man ungeheuer schwer einem Opfer ins Gesicht sagen kann. Trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass Anne Will sich getraut hätte, zu erklären, warum wir Mörder nicht töten.
Ein weiterer Grund: Unser Staats-Verständnis beruht auf den Vertragstheorien, nach denen ein jeder zuerst vollständig frei ist und erst dann diese Freiheiten gegen Sicherheiten in der Gruppen / dem Staat eintauscht. Das Leben aber kann man gegen keine Sicherheit eintauschen, weil die einem dann ja nichts mehr bringen würde und mehr noch alles nimmt. Dementsprechend führt jeder Versuch des Staates, jemanden zu töten zur Auflösung des Vertrages und ist damit nicht mehr rechtfertigbar.