Koexistenz mit dem schwachen Geschlecht

Anna ist immer angenehm pünktlich, aber gestern Abend war sie ein wenig zu pünktlich. Also andersrum unpünktlich. Zu früh. Sie wirkte gequält. Das lag nicht an ihren brutalen Rückenschmerzen, die bekam sie mit Ibuprofen in den Griff. Vor einigen Wochen hat Anna einen Iren kennengelernt, der so ähnlich wie ein großer deutscher Verlag heißt. Der Ire ist ein wenig zu klein für Anna und aus dem prosperierenden Irland geflohen, weil es dort mit der Arbeit nicht geklappt hat.
In die Welthauptstadt der Arbeitslosigkeit. Was vermutlich einiges über die Lebensplanungskompetenz des auch nicht mehr so jungen Iren aussagt.

Anna war jedoch nach aufheiterndem Geschlechtsverkehr und daher pfiff sie auf die Lebensplanungskompetenz des Iren, nennen wir ihn Reclam, verbannte das Bild aus dem Kopf, das ihr bei kleinen Männern immer in den Sinn kommt (denkt Anna an Sex mit napoleonesken Gestalten, ist der nächste Gedanke „Froschhochzeit“, winzige Männchen, panisch um Halt ringend auf riesigen Weibchen rumturnend) – und so erlebten Anna und Reclam eine kleine private Orgie.

Schon am nächsten Tag, vielleicht sogar noch währenddessen, so schwor Anna gestern mehrfach, sagte sie dem kleinen Iren, dass man das durchaus wiederholen könne, eine Beziehung werde sich dadurch aber keinesfalls ergeben, berufliche Anspannung, Leasingraten für den neuen Wagen, der kranke Vater, der eingeklemmte Nerv, keine Zeit, keine Lust, zuviel Nerv, zuviel Nerv, gib mir Energie. Um positive Aufladung sollte es also gehen. Keine Ansprüche, keine Problembequatschung, stattdessen Orgasmen, Rückenkraulen, möglicherweise gemeinsames Lachen und sogar Essen.

Das Rückenkraulen, das Lachen und das Essen. Denn so rein von Leidenschaft geprägt wie in den Filmen, die von Paaren handeln, die sich nur zum Vögeln treffen, ist die Realität ja leider nicht. Natürlich spricht man mit Menschen, mit denen man Sex hat, was übrigens zur Folge hat, dass ich zu dem Satz „dumm fickt gut“ nichts Erhellendes beitragen kann. Man spricht mit ihnen, man mag es, sie zu mögen, wenn sie sich beim Brotschneiden schneiden sucht man ihnen ein Pflaster und sagt etwas Tröstendes und vielleicht sagt man sogar etwas Entzückendes und nachdem das dann zweieinhalb Mal ganz gut geklappt hat mit dem sich nur Energie schenken und keine gemeinsame Zukunft planen, liegt man auf der Couch und führt psychotherapeutische Gespräche, wo doch Cunnilingus auf dem Plan stand.

Mit der Aer Lingus war Reclam angekommen in Berlin, nicht nur um der drohenden Vollbeschäftigung in Irland zu entfliehen, sondern auch um seine Exfreundin zu vergessen, die sein Herz in die Mikrowelle gesteckt hatte, um Irish Stew draus zu machen. Es ist eine der schwereren Übungen, das Gesicht eines Mannes, der einen mit tränenumflortem Blick anschaut, mit sanftem Druck in seinen Schoß zu bugsieren und Anna ist eben auch Zeit ihres Lebens bei Amnesty gewesen und hat für Robbenbabies und bedrohte indigene Völker gespendet und deshalb hörte sie sich die Leiden des auch nicht mehr ganz so jungen Reclam an und dachte an Brad Pitt in Thelma und Louise.

Bedenklich paarig schliefen sie aneinandergekuschelt ein, bedenklich paarig hatte es einen Orgasmus nicht gegeben. Das lief in die falsche Richtung.

Anna erhöhte daher den Zeitabstand zwischen zwei Treffen, die nach und nach einzig und allein daraus bestanden, dass Reclam Anna sagte, wie gut sie ihm tue, dass sie der beste Mensch in ganz Berlin sei und dann sagte er meist noch etwas Unhörbares, das in einem schluchzenden Seufzen unterging.
Annas Vagina meldete sich zu Wort und murrte: „So war das nicht abgemacht, würdest du jetzt mal bitte?“ Aber Anna sprach in ihren Schoß: „Lass mal, das wird böse enden“, worauf Annas Vagina für den Rest des Abends schmollte, sie dafür aber am nächsten morgen zu früh weckte.

So lag Anna dort um fünf Uhr morgens unruhig in ihrem Bett, lutschte eine Ibuprofen, neben ihr ein unbrauchbarer Ire, von dem sie mittlerweile wusste, welche Traumata seine Grundschullehrerin in ihm verursacht hatte und – dafür verfluchte sie sich tatsächlich – sogar den Namen der Grundschullehrerin wusste sie noch.

Jetzt wollte Anna den Iren nicht mehr sehen.
Bis gestern hat sie es geschafft, ihn sich fünf Tage vom Leib zu halten. Dann wurde er wütend.
Immer wieder rief er sie an. Sie solle sich nicht wie ein kleines Mädchen verhalten. Sie solle sich nicht wie ein Roboter verhalten. Nicht wie ein Tier. Nicht wie eine Anwältin. Er weinte. Er komme jetzt vorbei.

Daher kam Anna zu früh.
Wir beklagten gemeinsam den Zustand der Welt. In was für einer Gesellschaft leben wir denn, wenn jeder Geschlechtspartner gleich nach mehr verlangt, nach Aufmerksamkeit, nach Zeit. Als ob Sex nichts wäre. Wo sind die Werte geblieben? Anna schaute leidend und kaute an einer Ibuprofen: „Was hätte ich denn noch tun sollen? Ich hab’s doch gesagt.“

Ich warf ein, dass ich, der ich schließlich im Gegensatz zu Anna unter Menschen groß geworden bin, einräumen müsse, dass Menschen dazu neigen, jenseits von Vereinbarungen Gefühle zu entwickeln. Muss man also auf herrliche Belanglosigkeiten verzichten, weil man Tränen fürchtet?

Ich dachte an die Tränengesichter, in die ich geschaut hatte. Wir wurden uns schnell einig, dass der Mensch noch nicht geboren ist, der durch Tränen schöner wird. Verquollene Gesichter, die um eine letzte Aussprache betteln, um ein Überdenken, um – Annas Handy klingelte.

Wir starrten es an, wie man eben einen Apparat anstarrt, der schlechte Nachrichten transportiert. Das Handy hörte auf zu klingeln. Wir lösten uns aus der Starre.
Ich zeichnete die drei Lösungswege auf eine Schiefertafel und hob an zu einer Kurzskizzierung:
„1. Du heiratest den Iren, bekommst rothaarige Kinder, bis du denkst, du spinnst und darfst dich nienienie scheiden lassen.
2. Du ignorierst ihn und löscht ihn aus deinem Bewusstsein.
3. Du hast jeden Tag mit ihm ein Gespräch über die Frage: Warum denn nun nicht?“

Das alles sagte ich auf englisch mit indischem Akzent, denn ich hatte mittlerweile herausgefunden, dass Anna und Reclam sich auf englisch unterhielten. Meine Geschlechtspartnerinnen aus Zweit- und Drittweltländern sprachen erfreulicherweise immer deutsch. Ich müsste sehr über mich lachen, wenn ich auf englisch oder französisch Positionswechselanweisungen geben würde.

Das Handy klingelte. Diesmal redete der Ire auf die Mailbox. Er hatte sich für die Strategie „So-tun-als-ob-nichts-wäre“ entschieden und tirillierte in sanften Tönen die Adresse, wo er jetzt anzutreffen sei. Er schloss mit einem herzhaften „Come on, Anna, come on.“ Das Trimipramin schien zu wirken. Im nächsten Anruf wurde darum gebeten, einander zu halten, dann gab es wieder einen unter einer anderen Nummer, der nur noch aus Wimmern bestand. Dann kam eine SMS.

Oh Anna! Help me, I didn’t tell you all, be good to me, you’re nice.

Ich fragte Anna, ob Reclam kein Muttersprachler sei und ob sie in Wirklichkeit mit einem Nigerianer eine Affäre habe, der ihr ein unglaubliches Geschäftsangebot unterbreiten wolle.

Eine Lösung haben wir nicht gefunden. Das Problem bei diesen halb-freundschaftlichen Sex-Affären ist nun einmal, dass man sie nicht einfach unter Verweis auf die Gefühle beenden kann. Der Ire schlug schließlich vor, einfach nur nebeneinander zu sitzen. Nein, man müsste schon sagen, dass die bloße Anwesenheit zu viel sei, dass man die Koexistenz auf dem selben Planeten für eine Zumutung halte. Macht man ja nicht. Nicht leicht da draußen.

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