Meine Frau schreibt ihre Doktorarbeit und ist schwanger. Sie ist Stipendiatin und arbeitet daher unter paradiesischen Bedingungen am Exzellenzcluster der FU Berlin. Weil sie schwanger ist, bekommt sie ein Jahr länger Geld für ihre Forschung.
Das ist ohne Frage ein Zeichen für eine fantastische Entwicklung, meine Frau hat unter diesen paradiesischen Bedingungen beinahe so gute Möglichkeiten wie ein Mann.
Warum nur beinahe? Keiner ihrer Kollegen wird jemals schwanger sein.
Die Schwangerschaft meiner Frau verläuft verhältnismäßig erträglich. Rund um die Uhr schlecht war ihr nur in den ersten Monaten und Luft bekommt sie eigentlich immer genug, es sei denn, sie bewegt sich oder redet.
Aber es gibt natürlich auch andere Schwangerschaften. Es können durch den Hormonmix Depressionen aufkommen oder Diabetes, der Blutdruck kann lebensbedrohlich ansteigen oder sich eine Autoimmunerkrankung entwickeln, Blutarmut gehört für einen großen Teil der Frauen zu den Begleitumständen.
Und so trennen sich hier für gewöhnlich die Karrierepfade von Frauen und Männern, spätestens aber mit dem zweiten Kind.
51% aller Studierenden sind weiblich, der Anteil der Frauen an der Professorenschaft beträgt dagegen gerade einmal 17%. Und bis zu 90% der Professoren haben Kinder, aber nur 5% der Professorinnen.
Doch eine Schwangerschaft ist keine Krankheit, heißt es, man kann arbeiten bis kurz vor der Geburt, heißt es, man muss sich eben durchbeißen, heißt es. Sind Frauen Weicheier?
Doch genau darum kann doch Gleichberechtigung nur gehen: Dass es nicht nur die körperlich und geistig härtesten und stärksten Frauen nach oben schaffen.
Genau wie noch den größten Waschlappen unter den Männern eine Karriere gelingen kann.
Wäre Josef Ackermann gut damit zurecht gekommen, dass ihm drei Monate lang schon übel ist, wenn er an Essen denken muss, er gleichzeitig aber immer Hunger hat?
Hat sich Dieter Zetsche, Vorstandsvorsitzender der Daimler AG, dadurch qualifiziert, dass er Verhandlungen auch dann knallhart führen kann, wenn ihm beim Reden die Luft wegbleibt, weil seine eben noch winzige Gebärmutter auf Medizinballgröße wächst und dabei alle Organe, auch die wichtigen, einfach zur Seite drückt?
Auf einmal heult ein sonst so nüchterner Mensch los, weil die Bahn schon weg ist – könnte ein Mann mit einem hundertfach erhöhten Östrogenspiegel besser umgehen?
Musste Martin Winterkorn (VW) alle fünf Minuten auf die Toilette rennen, und hat ihm sein Chef Ferdinand Piech, der zwölf Kinder hat, dann gesagt, es sei alles nur eine Frage der Organisation?
Hat, wo wir gerade bei Piech sind, Ferdinand Piech seine zwölf Kinder eigentlich alle gesäugt?
In hunderten von Büchern und zehntausenden von Internetseiten wird Frauen gesagt, dass sie ihr Kind möglichst lange stillen müssen. Es droht Autismus, psychische Verwahrlosung, Anfälligkeit für Allergien, plötzlicher Kindstod.
Auf der Seite netmoms.de heißt es, dass durch das Säugen „das Kind die Fähigkeit erhält, lebenshungrig, durchhaltefähig, fleißig und initiativreich zu werden“. Zwar sei es besser, sein Kind mit der Flasche zu füttern, als es verhungern zu lassen, aber der Schaden, den man dem Kind zufügen könne, solle einem bewusst sein.
Wer sein Kind nicht stillt, der könnte es genauso gut einem Rudel Hyänen anvertrauen und es vorher mit Currysauce einreiben.
Wie haben sich also die deutschen Vorstände und Politheroen entschieden in dieser zur Ethikfrage aufgeblasenen Alltagsentscheidung?
Und wie lange sind sie bei ihren Kindern geblieben nach der Geburt?
Ein halbes Jahr, ein ganzes? Oder ein Leben lang?
Wenn man also stillen soll bis nichts mehr kommt, und eine Schwangerschaft einen unter Umständen für Monate lahm legt: Ist dann ein zusätzliches Jahr tatsächlich so paradiesisch?
Aber muss meine Frau auch unbedingt während ihrer Doktorarbeit schwanger werden? Und konnten nicht die Trümmerfrauen als alleinerziehende Mütter wie nebenbei ein ganzes Land aufbauen? Ist man nicht einfach selber Schuld?
Die Entscheidung, ob man ein Kind möchte oder nicht, gilt als freiwillig, weshalb man, so das nie geäußerte Argument, in einer freien Gesellschaft eben die Konsequenzen zu tragen habe.
So scheinen die meisten zu denken. Als ich für diesen Text mit meinen Bekannten darüber gesprochen habe, was der Staat tun müsste, damit sie mehr Kinder bekommen, war die Antwort häufig: „Was soll denn der Staat damit zu tun haben?“
New York City Subway Stairs from Dean Peterson on Vimeo.
Die U-Bahn-Station in der 36sten Straße in Brooklyn, New York, verfügt über eine Treppe, in der eine Stufe ein paar Zentimeter höher ist als die anderen. In einem Video des Filmemachers Dean Peterson auf dem Portal vimeo.com ist zu sehen, dass jeder U-Bahn-Nutzer an dieser Stufe stolpert. Sieht man jedoch einen Einzelnen an dieser Stufe stolpern, denkt man, er habe sich eben dämlich angestellt. Ebenso wie der Einzelne denken wird, es sei sein Fehler, dass er stolpert.
Jeder Einzelne hat in Deutschland individuelle Schwierigkeiten, ein Kind zu bekommen und großzuziehen, jeder mag sich selbst die Schuld geben. Aber die deutsche Geburtenkrise ist eine Hausgeburt. Es versagt das ganze Land, der Staat, die Gesellschaft. Manche Stufen sind einfach zu hoch. Allein durch individuelles Versagen lässt sich das rasante Schrumpfen Deutschlands schließlich nicht erklären. Bis zum Jahr 2060 wird Deutschland etwa eine DDR verloren haben, 17 Millionen Menschen. Die Weltbevölkerung jedoch wächst jedes Jahr um 80 Millionen, also um ein Deutschland.
Ich kann nicht beurteilen, ob die deutsche Entwicklung angesichts der globalen Zustände nicht ein Segen ist, mich interessiert die Zukunft auch nicht viel mehr als sie die deutschen Politiker interessiert.
Aber ich sehe die Gegenwart. Denn es gibt den demographischen Wandel eben nicht erst seit gestern – die Auswirkungen sind längst greifbar. Man muss gar nicht in die Zukunft schauen, um sich zu gruseln.
Deutschland ist jetzt schon das drittälteste Land der Welt nach Japan und Monaco, der durchschnittliche Niederländer ist drei Jahre jünger, der durchschnittliche Amerikaner sechs, der durchschnittliche Chinese sogar zehn Jahre.
Der Dramatiker Heiner Müller sagte, es habe „mit dem Lebensgefühl“ zu tun, „wenn die Geburtenrate sinkt: ein Volk, das sterben will.“ Gleichzeitig wolle das Volk „nichts abgeben. Dafür ist die Bundesrepublik exemplarisch. Man will hierzulande alles Bier trinken, und wenn man selbst kein Bier mehr trinken kann, soll es keines mehr geben.”
Es liegt ein Grauschleier über dem Land. Warum glaubt kein anderes westliches Land so wenig an die Zukunft?
In der deutschen Seele, sollte es sie geben, gäbe es gleich zwei Urverunsicherungen: den ersten und den zweiten Dreißgjährigen Krieg. 1618-1648 und 1914-1945 haben die Empfindung hinterlassen, dass das Beste, was passieren kann, ist, dass alles bleibt wie es ist.
Kann diese Sehnsucht nach Nichtveränderung so weit gehen, dass schon die Fortpflanzung zuviel des Neuen ist?
Oder klingt „Geburtenpolitik“ schon zu sehr nach nationalsozialistischem Mutterkreuz und Lebensborn? Lange galt Kinderkriegen als reaktionär, aber das scheint vorbei, Kinder sind durchaus wieder beliebt unter Jüngeren.
Wie kann es also so schwer sein, in einem der reichsten Länder nicht nur der Erde, sondern der Geschichte, die Entscheidung zu treffen, Kinder zu bekommen?
Die allermeisten meiner Bekannten sind zwischen Mitte Zwanzig und Anfang Vierzig, also im Reproduktionsalter. Einige wenige haben früh entschieden, keine Kinder bekommen zu wollen, noch weniger haben schon mit Anfang Zwanzig ein Kind bekommen, ansonsten gilt: Wer in seinen frühen Zwanzigern oder auch mit Mitte Zwanzig eine stabile Beziehung etabliert, die auch mit Dreißig noch anhält, bekommt mit diesem Partner in der Regel mit Ende Zwanzig oder Anfang Dreißig ein Kind.
Bei den meisten bleibt es bei diesem einen Kind, manche bekommen noch ein zweites, zwei Familien kenne ich mit drei Kindern, ich kenne privat keinen einzigen Menschen, der vier Kinder hat.
Aber was, wenn man nicht das Glück hat, in seinen Zwanzigern eine stabile Beziehung etabliert zu haben?
Man ist dreißig, seit ein paar Monaten Single, seit ein paar Jahren oder Monaten im Beruf. Man lernt jemanden kennen. Soll man sofort Kinder bekommen? Schließlich sind es nur noch wenige Jahre, bis die natürliche Fruchtbarkeit zu sinken beginnt?
Oder soll man etwas warten, bis die Beziehung sicherer ist? Ein nervenraubendes Dilemma.
Wenn man sich aber nach drei, vier Jahren trennt ohne Kinder bekommen zu haben, dann muss der nächste Partner schon der sein, mit dem man Kinder bekommt, spätestens aber der übernächste.
Manche haben Pech und bleiben ungewollt kinderlos, manche schaffen es noch so gerade und bekommen ein Kind.
Mein Bekanntenkreis spiegelt also ziemlich genau die demographische Situation: Viele Spätgebärende, einige Kinderlose, keine Familien mit vielen Kindern.
Die Kinderlosigkeit der einen wird nicht durch Kinderreichtum von anderen ausgeglichen.
Bisher war von Geld noch gar nicht die Rede. Erste Voraussetzung für die Allermeisten ist zunächst eine stabile Beziehung. Also tatsächlich: Was soll der Staat tun? Der Staat kann schließlich nicht den passenden Partner besorgen.
Der Staat selbst weiß es besser. Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung schreibt: „In der ehemaligen DDR sank das Geburtenniveau zunächst bis Mitte der 1970er Jahre ebenfalls (Anmerkung: wie in Westdeutschland) stark ab. Der danach folgende Wiederanstieg war vor allem durch familienpolitische Maßnahmen verursacht, die ein Vorziehen bzw. Nachholen von Geburten bewirkten.“
Und er kennt auch die zahlreichen Studien, aus denen hervorgeht, wie erfolgreich eine gezielt geburtenfördernde Politik sein kann.
Vielleicht passiert in Deutschland politisch ja etwas, wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass man mit so geburtenschwachen Jahrgängen nie wieder Fußballweltmeister wird. Das Leben in einer überalterten Gesellschaft bedeutet bereits jetzt: Rentenmisere, Pflegenotstand und in den Albumcharts stehen für immer uralte Schlagerbarden wie die 3 Amigos.
Man sollte also meinen, dass dem Land daran gelegen ist, wieder jünger zu werden, wieder eine Zukunft zu bekommen. Aber die deutsche Politik sorgt dafür, dass die Menschen keine Kinder bekommen.
Dem Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung zufolge könnten in Deutschland „bis zum Jahr 2050 rein rechnerisch ungefähr 850.000 Kinder mehr zur Welt“ kommen, würden wie in Dänemark drei In-Vitro-Fertilisationen, also Reagenzglasbefruchtungen, von den Kassen erstattet. Unter der rot-grünen Regierung Schroeder wurden in Deutschland den Paaren mit Kinderwunsch die Hälfte der Kosten aufgebürdet, was im Folgejahr die Zahl der Behandlungen halbierte.
Darüber hinaus werden Kinder davor bewahrt, alte Eltern, homosexuelle Eltern, unverheiratete Eltern zu haben. Für keine dieser Gruppen steht die Fortpflanzungstechnologie zur Verfügung.
So dringend ist der Wunsch des Gesetzgebers, die Kinder davor zu schützen, dass er sie lieber gar nicht erst zur Welt kommen lässt.
Ist Nichtexistenz besser als zwei sich liebende Mamas zu haben?
Immer mehr Menschen werden alt, also gibt es immer mehr künstliche Hüftgelenke und Herzschrittmacher. Man sagt den Leuten nicht: „Na, dann benutzt eure Hüften und eure Herzen halt weniger“, man entwickelt eine medizinische Lösung.
Medizinische Hilfe für Unfruchtbare aber wird nicht nüchtern betrachtet als Notwendigkeit unserer Zeit. Soll man stattdessen eben mit 18 Kinder bekommen.
Wenn der Staat also nichts tun will, ist es Zeit für gute Ratschläge. So sagt also etwa die Spiegel-Autorin Claudia Voigt den Leserinnen, sie sollten eben einfach sehr viel früher Kinder bekommen. Wie kommt es, dass über Fortpflanzung nachgedacht wird, als würden Menschen sich durch Parthenogenese verbreiten, durch Jungfrauengeburt wie die Blattläuse?
Warum bleibt alles an den Frauen hängen?
Das Lieblingsspiel der Politik ist Teilen und Herrschen. Also wird die Bevölkerung in vermeintliche Interessengruppen aufgeteilt. Frauen gegen Männer. Heteros gegen Homosexuelle (angeblich soll schon die reine Existenz von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften auf Kosten der Familien gehen, so etwa die CDU-Abgeordnete Katherina Reiche) oder Kinderlose gegen Familien (wobei dann die vermeintlich egoistischen Kinderlosen zu einem Ablasshandel gezwungen werden sollen, man denke nur an die von jungen CDU-Abgeordneten geforderte Sonderabgabe).
Die gerade einmal 20.000 eingetragenen Lebensgemeinschaften sprengen also den Bundesetat. Sind Schwule Griechenland?
Man kann nicht die Kinderlosen als Egoisten darstellen, die den altruistischen Familien alles wegfressen. Es ist eine Maßgabe der Freiheit, sowohl die Entscheidung für Kinderlosigkeit treffen zu können als auch für eine Großfamilie. Hat aber niemand mehr viele Kinder außer ein paar Milliardären und ein paar Sozialhilfeempfängern, dann ist das eben auch ein Freiheitsproblem.
Vielleicht will ich gar nicht die Freiheit, auf der Autobahn 200 fahren zu dürfen, sondern die Freiheit, 5 Kinder aufziehen zu können?
Frauen und Männer sitzen gemeinsam in der Tinte. Seitdem es akzeptiert ist, dass Frauen arbeiten, ist es auch notwendig geworden, dass beide arbeiten – immer weniger Einzelne können noch drei Menschen ausreichend versorgen.
Kinder sind erst dann ein echtes Armutsrisiko, wenn sie in kleinen Horden auftreten (mit dem dritten Kind steigt die Gefahr, zu verarmen), weil es dann beinahe unmöglich ist, dass beide arbeiten, noch zuverlässiger treiben sie nur in die Armut, wenn der Erziehende alleine ist.
Sowohl die Entscheidung, nicht fünf Kinder zu bekommen, als auch die Entscheidung, mit der ersten Geburt zu warten, bis man sich des Partners sicherer ist, sind also vollkommen rational.
Nicht arm sein zu wollen, das ist keine egoistische Überlegung, das ist ein Menschenbedürfnis.
Wer wartet, wer nach dem zweiten Kind aufhört mit der Fortpflanzung, der spiegelt mit seiner angeblich individuellen Entscheidung einfach nur die Gegebenheiten. Jeder stolpert an der Babyschwelle.
Jahr für Jahr gebären die Frauen in Deutschland zweieinhalb Monate später zum ersten Mal. Die Angst wird größer.
Aber die Sicherheit kann nicht allein in der Liebe gefunden werden. Beziehungen können sich heute eben lösen, egal wie lange man sie testet. Mehr Sicherheit kann nur der Staat geben – nicht durch Partnervermittlung, sondern durch eine gezielte kinderfreundliche Politik.
Die amerikanische Denkfabrik RAND Corporation kam in ihrer für die Europäische Kommission erstellten Analyse „Low Fertility and Population Ageing“ zu dem Ergebnis, dass nationale Maßnahmen unter den richtigen Umständen erfolgreich sein können, das Altern der Bevölkerung und seine Konsequenzen umzukehren, aber keine Einzelmaßnahme sei ein Erfolgsgarant. Es könne indirekte Einflüsse von Maßnahmen geben, die dazu geeignet sind, auf breiter Ebene soziale und ökonomische Bedingungen zu verbessern, da aber Bevölkerungspolitik wenigstens eine Generation brauche, um sich zu bewähren, sei sie politisch unattraktiv.
Hier wird sozialer Wohnungsbau gekappt, die Lehrmittelfreiheit abgeschafft, Studiengebühren eingeführt. Es wird wirklich keine Gelegenheit ausgelassen, Kinder unbezahlbar zu machen.
In Frankreich, das wissen selbst meine Bekannten, da gibt es Krippenplätze. Und ja, das wäre schon ganz schön, wenn es die hier auch geben würde. Und nein, man versteht nicht so ganz, warum es so schwer ist, hier welche anzubieten.
Dabei ist es ganz einfach: Die Politik tut nichts für eine familienfreundliche Gesetzgebung, weil es eben zu lange dauert. Die ganzen alten Frauen und Männer, die uns regieren, sind schon lange tot und damit unwählbar, wenn die Maßnahmen greifen würden.
In Frankreich aber, da gibt es eben nicht nur Krippenplätze. Es gibt in Frankreich mehr als 30 verschiedene Maßnahmen. Bedarfsorientierte Leistungen, Steuerentlastungen, Gemeindewohnungen, günstige Hypotheken für kinderreiche Familien, verbilligte Tickets für öffentliche Verkehrsmittel, man muss nicht Zuhause bleiben, man muss nicht verheiratet sein, Krippen und Kindertagesstätten werden gefördert. Vor allem aber gibt es diese Politik bereits seit 60 Jahren, es herrscht große Einigkeit über die Notwendigkeit, die Bevölkerung kann sich darauf verlassen.
Frankreich hat natürlich keine paradiesischen Zustände. Nicht alle Maßnahmen greifen. Aber die Politik hat schon früh erkannt, dass sie Alleinerziehende und Kinderreiche nicht allein lassen darf.
Politik müsste also auch in Deutschland einige Faktoren berücksichtigen.
Die Menschen wollen nicht arm werden.
Sie wollen in ihren Entscheidungen nicht limitiert werden.
Sie wollen ihren Berufen nachgehen können.
Diese Faktoren sind natürlich eng miteinander verwoben, man kann am Ende sagen: Die Menschen können nicht all ihre Zeit auf Kinder verwenden.
Es gibt in Deutschland keine Mehrgenerationenhaushalte mehr. Das haben sich nicht die derzeitig in Deutschland lebenden Generationen aus Hedonismus einfallen lassen, Deutschland ist eben eine der ältesten Industrienationen, die Landflucht und Vereinzelung begann hier schon vor mehr als 150 Jahren (weshalb es in Deutschland auch keine bedeutenden regionalen Küchen gibt, aber das ist eine andere Geschichte).
Was also in anderen Ländern die Familie leistet, die Entlastung der Eltern durch Großeltern, Onkeln, Tanten, Cousins, Cousinen, Neffen, Nichten in Form von Mitpflege, Babysitten, Nachhilfe, durch Rat und Tat also, das leistet hier, wenn es nicht der Staat tut, niemand. Die Eltern müssen also entweder in die Lage versetzt werden, ihre Kinder irgendwo abgeben zu können, oder man muss seine Kinder mit zur Arbeit nehmen dürfen.
Glücklich die, die gesunde Eltern haben, die in derselben Stadt wohnen, die haben wenigstens ab und an jemanden, der auf das Kind aufpasst. Die anderen sind auf Krippenplätze angewiesen oder geben für Babysitter, die sie Brutto bezahlen, mehr Geld aus, als sie Netto verdienen.
Zum letzten Mal in derselben Stadt wie meine Eltern habe ich mit 20 gewohnt, meine Frau mit 19, meine Eltern sind tot, die meiner Frau geschieden, unsere Geschwister wohnen in verschiedenen Städten: Es gibt keine Verwandten, die mal eben einspringen könnten. Freunde aber, sagen die Bekannten, die Kinder haben, fragt man eher nicht. Am Ende wird Kinderarmut vererbt, wobei der Begriff verwirrend ist, denn arm sind ja die Kinderreichen.
Lassen Sie mich nun offen sprechen, als säße ich bei Markus Lanz auf der Couch: Das Aussterben der Deutschen bereitet mir keine schlaflosen Nächte. Ich pflanze mich nicht fort, um Deutschland zu retten.
Und doch bekomme ich jetzt ein Kind. Mit 38 Jahren, einige Jahre später als der Durchschnitt, werde ich nun Vater. Ich kann mir sagen lassen, ich hätte viel eher ein Kind bekommen sollen, ich kann mir sagen lassen, ich hätte nicht so einen unsicheren Beruf auswählen sollen. Aber ich bin nicht der einzige, der stolpert, was auch immer ich falsch gemacht habe.
Wer also hilft mir?
Nicht alles, was gut gemeint ist, taugt. Elterngeld? Wie soll ich als Selbständiger meine Arbeit so lange ruhen lassen? Soll ich einen Freund bitten, meine Kolumne zu übernehmen? Und 65% des Nettogehalts? Zahle ich auch nur noch 65% Miete?
Im uns anerzogenen Einzelkämpfermodus kommen wir gar nicht auf die Idee, der Staat könne irgendetwas für uns tun.
Aber Kinder dürfen nicht ein individueller Glücksfall sein, den man erleben kann, wenn die Eltern und Großeltern genug Geld haben, die Liebe groß genug ist, und man gerade zwischen zwei Jobs Zeit hat. Kinder zu bekommen muss normal werden. Ist es aber nicht. Um das wieder hinzubekommen bedarf es einer – darf man nationale Anstrengung sagen? – bedarf eines Projekts, das größer ist als der Plan, zum Mond zu fliegen. (So scheint es wenigstens, wenn man Kristina Schröder gehört hat, wie sie die Länder anbettelt, wenigstens den zusätzlichen finanziellen Bedarf für das Einrichten von Krippen an den Bund zu melden.)
Ich bin kein Politiker und muss nicht sagen, woher ich das Geld nehmen will. Offenbar sind Krippen und Kindergärtnerinnen ja ungleich teurer als Bankenrettungen. Ich kann fordern. Und gerade das wird von meiner wohlerzogenen, als egoistisch geltenden Generation zu wenig getan. Glaubt man gar nicht. Es geht den jüngeren Generationen in Deutschland so wie den Untertanen in feudalen Staaten: Sie müssen den allmächtigen Alten eine Veränderung abringen, die diese nicht wollen.
Liebe Oma, dein Enkel hat kein Geld für Kinder. Nein, tausend Euro reichen nicht.
(Der Text ist in der Berliner Zeitung erschienen)