08
Nov 13

Eine gefälschte Liebe

Jakob war mit einer Frau zusammen, die es so nicht gibt. Für das SZ Magazin habe ich die Geschichte erzählt. Und obwohl ich mich bemüht habe, zu erklären, wie das geschehen konnte, wie es ihm gelang, auf sie hereinzufallen, was sie dazu trieb, die Geschichte immer weiter zu spinnen, ist es spannend, hier etwas mehr ins Detail zu gehen.
Die erste Frage ist natürlich, warum die beiden nicht etwa einfach geskypet haben. Da behalf sich Louisa meist schlicht mit Ausreden. Kamera kaputt, zu müde, sieht gerade nicht so gut aus, sie versteht das neue Gerät noch nicht.

Beim Lesen der Messages, die die beiden sich geschrieben haben, gibt es immer wieder Stellen, an denen man denkt: Jetzt muss Jakob es doch merken. Etwa als Louisa ihm erzählt, sie käme mit ihrem neuen iPad noch nicht zurecht, das alte sei in New York fünf Stockwerke heruntergefallen, deshalb habe sie es umtauschen müssen.

ist mir in ny aus der hand gerutscht und etwa 5 stockwerke durch treppenhaus gerauscht….
ich hörte immer klong, kong, klong… hahahaha

Wie zum Teufel soll ein Gerät auf die Weise fallen?

Jakob, der sich mit allem, was mit Technik zu tun hat, gut auskennt, weiß darüber hinaus sogar, dass Apple keine auf diese Art beschädigten Geräte umtauscht. „Das geht nicht sowas und ging noch nie!“, schreibt er.

Worauf sie antwortet:

und wie erklärst du dann, dass ich jetzt ein neues habe, nichts bezahlt habe und statt schwarz weiß?
also, eingeschweißt war das nicht, sondern irgendein überholtes… aber optisch halt neu warum sollte ich dir denn jetzt quatsch erzählen?

Tja. Warum sollte sie so einen Quatsch erzählen? Ich denke, dass diese Frage im Text hinreichend beantwortet wird. Was man gedruckt gar nicht recht darstellen kann, ist der ungeheure Aufwand, den die Fakerin betrieben hat. Sie stellte sich Jakob als äußerst generös dar, weshalb sie eine Charity erfand. Sie sagte aber nicht einfach “Übrigens, ich habe eine Charity, aber lass mich darüber nicht zu viele Worte verlieren. Sie schrieb beispielsweise diese Mail, in der sie die Gründungsgeschichte ihrer Charity erzählte.

Weihnachts-Charity

Alles fing an einem waaaaahnsinig langweiligen, trostlosen Tag in London an.
Samstag, 6. Dezember 2008.
Nikolaustag!
Kurz vor die Wohnungstür geschaut… Ok, der kleine Bruder hat vergessen meinen Stiefel mit Leckereien zu bestücken, von einem kleinen Geschenk sprechen wir mal lieber gar nicht. Ich könnte schwören, Mami hat ihm noch ‘ne Sms geschickt. Wieso bin ich gestern Nacht noch einmal um den Hyde Park gefahren, um ihm ein Geschenk vor die Tür zu stellen?! Ok, bei ihm stand kein Schuh… Trotzdem bin ich wohl die große, brave Schwester.

Ein Blick aus dem Fenster. Schöne weiße Stadtvillen, wohin man sieht… Es hilft nicht, um mich zu erheitern. Nebel… Hier und da etwas Schneematsch am Straßenrand. Dunkle Bäume… unheimlich. Überhaupt ist alles düster. Es ist 10 Uhr und es sieht schon wieder aus wie 18 Uhr. Total trostlos!

Shoppen? Fällt aus, ich hab alles!

Anja anrufen! Werde angemault, es wäre bei ihr 5 Uhr morgens! Okok… Hab nicht an die Zeitverschiebung zu NY gedacht. Neige vor Langeweile schon wieder dazu, meine guten Vorsätze für 2009 (wurde im Laufe der Zeit auf 2013 vertagt!) “Ich werde nicht mehr so planlos und chaotisch sein” über Bord zu werfen. Wie gut, dass ich noch ein paar Tage Zeit habe bis 2009, die endlos lange Liste am Kühlschrank auswendig zu lernen!

Sara anrufen. Zürich 11 Uhr!
“Was fällt Dir ein, am Samstag so früh anzurufen?! Ich hatte gestern Weihnachtsfeier!” Tut… Tut… Tut…
Jaja, ist ja gut… Wieder der gleiche Fehler! Nicht nachgedacht…

Hmmm?! Daniel an den vergessenen Nikolaus erinnern? Nö, noch so ein kurzes Gespräch? Kein Bock drauf.
Werde jetzt langsam schlauer und mein Gehirn kommt, nach anfänglichen Startschwierigkeiten am Morgen, auf Trab.

Wahnsinn! Ich kann mit Urlaub einfach nichts anfangen. Bis zum 12. Januar 2009. Zwangsurlaub! Vom Chef angeordnet, weil ich soviel gearbeitet habe. Erst am 20. Dezember geht’s zu Opa in die italienischen Berge. Lange Zeit noch. Was nun? Jetzt schon mal Koffer packen?
(…)
Jeden Tag kennt er bis heute neue Streiche. Allerdings gilt er jetzt nicht mehr als schwer erziehbar. Wir haben uns gegenseitig unsere Liebe erkauft. Ich darf ihn knuddeln, kuscheln und knutschen wann ICH will und er darf bei mir bleiben und seinen Schabernack treiben. Ein Abkommen sozusagen. Er ist ein Goldstück! Mittlerweile kennt er von der Welt fast soviel wie ich, er liebt seine Hundetasche, weil er weiß, dass er dann wieder irgendwo mit mir hinfliegt.

Die frische Luft tut gut. Und während ich den kleinen Racker beobachte, wie er einen Labrador ärgert, frage ich mich:

Was würde ich nur ohne ihn machen?Was wäre aus ihm geworden, wenn ich ihn nicht aus dem Tierheim geholt hätte?
Wäre er immer noch da?
Wäre ein anderer lieber Mensch ins Tierheim gefahren und hätte sich für diesen Frechdachs entschieden?

Habe das Bild noch vor mir, wie er da traurig neben einem leeren Freßnapf im Zwinger saß. Überall Dreck! Ein Loch war dieses Tierheim. Es stank, war dreckig… Total eklig. Erbärmlich. Naja, die haben halt kein Geld, um da…

Kein Geld… Kein Geld?

Gute Idee, ich fahre jetzt zu Papa!
Nein, nicht um um Geld zu betteln. Er kennt sich mit Baukosten aus.
Warte ich noch etwas, bis er in Ruhe gefrühstückt hat? Seine neue Freundin kann mich nicht leiden, vielleicht sollte ich sie milde stimmen, wenn ich da jetzt reinplatze… Ach was, einen Tee wird sie mir ja wohl auch machen können mit ihren 29 Jahren. Ja, richtig! Sagt nichts dazu!
Mehr als Frühstück bekommt die auch nicht hin. Das erste und letzte Dinner bei ihr war grobe Körperverletzung.
Egal, ich fahre jetzt los.

Ich bin nicht willkommen, das spüre ich schon beim Durchfahren des Gartentores. Sie ist noch dünner geworden, ich komme mir fett vor.
Dafür bin ich mit mir im Reinen, während sie chronisch unzufrieden und schlecht gelaunt ist. Also, besser keine Diät für mich!

Statt “Guten Morgen” kommt ein “Kannst Du sowas nicht mit ihm im Büro klären?”

Ich muss kurz überlegen. “Nein, das ist nicht möglich. Ich arbeite nämlich auch, im Gegensatz zu Dir, die es vorzieht das Geld anderer Leute zu verprassen, während ich für meine Birkin Bag hart gearbeitet habe!”
Ja, richtig, genau genommen, es beruht auf Gegenseitigkeit. Wir hassen uns! Herrlich, jetzt ist Ruhe und wir können uns den wichtigen Dingen des Lebens widmen.

Papa ist Feuer und Flamme von meiner Idee!
Ok, um das Tierheim wieder in Schuss zu bringen, benötigen wir etwa 50.000 Britische Pfund, wenn er die Handwerker stellt und einen großen Teil der Arbeitszeit spendet. Außerdem würde er auf seine Kosten einen zusätzlichen neuen Trakt bauen, damit die Tiere nicht mehr so zusammen gepfercht sind. Er machte eine Kostenaufstellung und noch am Abend verschicke ich die ersten E-Mails.

Wer von meinen Freunden hat Geld und davon zuviel? Ich weiß, so schrieb ich es natürlich nicht. Aber ähnlich.

Am Montag bin ich bei der Bank und richte ein neues Konto ein. Meine Spende ist die erste darauf und hoffe, dass sie schnell Zuwachs bekommt.

Am Dienstag ein Blick auf das Konto. Kein Pfund mehr drauf!

Am Mittwoch… Hm! Nix!

Nein, ich werde nicht bei meinen Freunden betteln. Die werden schon irgendwann merken, wie schlecht es sich mit einem harten Herz lebt!

Donnerstag traue ich mich schon nicht mehr nachzuschauen.
Hoffentlich bekomme ich wenigstens ein paar Zinsen.

Nachmittags ein geschäftlicher Termin mit einem meiner Models. Während wir so einen Vertrag ausarbeiten, muss ich plötzlich schmunzeln. “Ok, Anja, ich kenne Dein Bankkonto fast so gut wie meins. Ich ändere den Vertrag nur, wenn Du eine Spende locker machst!”

Seit dem Tag wuchs das Konto. Und wuchs. Und wuchs.

Jetzt hatte ich den Dreh offenbar raus! Traurig hatte ich jedoch im Hinterstübchen, wieviel Geld ich mir erpressen und wieviel Zeit und Arbeit ich investieren mußte, um die Leute wachzurütteln.

Am Freitag, den 19. Dezember 2008, einen Tag vor Abflug in meinen jetzt wohlverdienten Weihnachtsurlaub, schloss ich das Konto und ich konnte die frohe Mitteilung verfassen, dass wir das Geld für die Umbaumaßnahmen des Tierheims locker zusammen hatten.
Es war soviel, dass ich spontan beschloss, das übrige Geld in Massen an Kinderklamotten und Spielzeug zu stecken und diese Sachen ins Kinderheim bringen zu lassen. Außerdem organisierte ich einen Weihnachtsmann, der diese Sachen noch am Heiligabend dort verteilen sollte.

Ich wurde belohnt, mit einer Karte, wo einfach nur in großen Buchstaben DANKE stand und mit unzähligen gemalten Bildern der Kinder und Fotos, wie sie mit glänzenden Augen um den Weihnachtsmann sitzen, der spontan beschloss noch Weihnachtsgeschichten vorzulesen.
Wie sie Geschenke auspacken und die neuen Klamotten anprobieren. So rührend, dass ich ganz schön Pfützchen in den Augen hatte. Da bedarf es keinem Dankes-Schreiben der Kinderheim-Leitung. Das war Dank genug!

Ich verschickte Fotos mit einer Dankes-E-Mail an die edlen Spender und siehe da, ich bekam tatsächlich Antworten, ob wir das im nächsten Jahr wieder machen. Der Damm war gebrochen!

Was am 6. Dezember 2008 im mehr oder weniger privaten Rahmen begann, war im folgenden Jahr schon wesentlich organisierter, wurde zeitlich viel früher in Angriff genommen und weitete sich vom 2. November bis 23. Dezember 2009, von unserer Agentur in London über New York, nach Paris und Mailand aus.

Ich wollte, neben der Spendenaktion, ein Plätzchen Backen veranstalten. Was 2009 noch mit 4 Models und meiner Wenigkeit im Kinderheim stattfand, mußte aus Platzmangel 2010 ausgelagert werden. Aber wohin? Denn mittlerweile findet das Plätzchen Backen in allen Londoner Kinderheimen statt. Außerdem in NY, Paris und Mailand.

Einen herzlichen Dank somit an die Luxushotels Four Seasons Park Lane in London, Fairmont Hotel The Savoy in London (seit 2011), Hotel Mandarin Oriental in New York, Four Seasons George V in Paris und Four Seasons Hotel Milano, wo seit 2010 jährlich am 2. Adventswochenende sämtliche Bankett-Räume und Großküchen zum Plätzchen backen für die 4-8 jährigen kleinen Kinderheim Bewohner gesperrt sind. Mein größter Respekt gilt dem Personal, was mit Engelsgeduld stundenlang zu Hilfe ist und Bleche voller Plätzchen einsammelt und backen läßt. Dafür sorgt, dass die richtigen Plätzchen wieder beim richtigen Kind landen, beim Verzieren unterstützt, die Kekse zum Mitnehmen mit verpackt und und und… Außerdem mein großer Respekt an die Putzkolonne. Wer einmal mit kleinen Kindern Plätzchen gebacken hat, weiß wovon ich rede und wo danach überall Mehl, Teig und Zuckerguss klebt und wo man nach geraumer Zeit immer noch irgendwo kleine bunte Perlen, Pistazien- und Haselnuss-Stückchen, Schokostreusel und Sternchen findet. Ich bin selbst in London immer dabei und spreche von einem Ausnahmezustand, wenn ca. 80 Kinder backen!

Mein nächster Dank geht an die verschiedenen Theater und Musicals, die Sondervorstellungen geben für die 8-17 jährigen Kinder.

Harrods, welches immer ein Schlaraffenland an Kinderklamotten, Spielsachen und leckeren Weihnachtssüßigkeiten zur Verfügung stellt. DANKE, da möchte ich wieder Kind sein!

Puuuh, gar nicht so einfach so einen Text zu schreiben, ohne totaaaaal langweilig zu werden.

Ich versuche mich kürzer zu fassen, muss ja auch alles auf eine Doppelseite einer Zeitschrift passen, inkl. Fotos.

2009 kamen Spenden in Höhe von 321.000 GBP zusammen. Es wurde eine neue Küche im Kinderheim in London gebaut und das Bettenhaus wurde renoviert, außerdem eine Schule in Südafrika unterstützt. Vielleicht sollte ich nicht unerwähnt lassen, dass unsere Spenden 1:1 ohne irgendwelche Abzüge auch wirklich verteilt werden.

2010 stieg unser Konto auf sage und schreibe 972.631 GBP, was mein Chef großzügig auf 1.000.000 GBP aufrundete.

Die Sache begann mir über den Kopf zu wachsen. Wohin mit dem Geld?

Papa konnte ich nicht mehr um Rat fragen. Er starb Anfang 2009 an einem Herzinfarkt. Mami’s Rat aus Zürich war irgendwie nicht so richtig hilfreich. Also Opa fragen, der sich irgendwann mal die Berufsbezeichnung “Geschäftsmann” verpasste. “Kind, Du hast den Verstand Deines Vaters und das Herz Deiner Mutter bekommen. Du wirst das schon richtig entscheiden.” Na, dann ist ja alles gut! Und nun? Nächtelang keinen Schlaf, wer konnte auch ahnen, dass meine Models plötzlich immer spendabler wurden.

Ich wollte das Geld nur für Kinder!!
Hatten meine Eltern, meinem Bruder und mir, nicht schon früh beigebracht, dass es nicht allen Kindern so gut geht wie uns?

Ich verteilte das Geld an 3 große Organisationen für Kinder, Kranke Kinder und die Forschung.

Der größte Fehler meines Lebens! Ja, auch das muss man lernen, sich mal einzugestehen. Denn ich hörte nichts! NICHTS!!! Außer einem Kontoauszug, wo besagte 3 Beträge abgingen und 3 Spendenbescheinigungen, die mich einen Dreck interessierten, hatte ich NICHTS!!

Ach, falsch, im November 2011 erhielt ich 3 Schreiben, wie es denn mit einer erneuten Spende aussehen würde.

Auf keinen Fall! Ich sehe ein, dass man jeden Penny in eine Forschung von schweren Krankheiten stecken sollte, aber hier hätte ich zumindest ein DANKE erwartet.

Das Ende 2011 kam in großen Schritten auf mich zu und diesmal überlegte ich mir vorher schon eventuelle Empfänger unserer Spenden. Man wird ja schlauer mit der Zeit. Sollte der Betrag auf meinem Konto dieses Jahr kleiner ausfallen, müßte man halt später Prioritäten setzen.

Allerdings ahnte ich schon, anhand der Anfragen auf den Fashion Weeks im Herbst, dass dieses Jahr alles übertreffen würde. Es hatte sich zu diversen Designern und Models anderer Agenturen herumgesprochen.

15.000.000 US Dollar!!!

Wir haben uns vorbehalten, diesen Betrag auf unserem Konto zu belassen. Für mich! (Kleiner Scherz!)
Nein, neben den Londoner Kinderheimen und dem Kinderkrankenhaus, die immer großzügige Spenden erhalten und die mir persönlich besonders am Herz liegen, haben wir uns bei verschiedenen Institutionen erkundigt, was für welchen Betrag gemacht werden kann/muss und hinterher Rechnungen beglichen. Ein großer Aufwand, jedoch sehr effektiv und unser 1:1 Prinzip trat wieder in Kraft.
Der größte Betrag ging jedoch an das Hadassah Medical Center in Jerusalem, eines der besten Forschungs- und Lehrkrankenhäuser der Welt. Meine Cousine Sara wird dort 2013 im Rahmen ihres Medizinstudiums ein halbjährliches Praktikum absolvieren. Dies sage ich jetzt mal so, damit man mir nicht wieder vorwerfen möge, ich hätte ihr das Praktikum erkauft.

Kommen wir zu 2012!!

Aus gesundheitlichen und privaten Gründen, mußte ich mich dieses Jahr leider aus dem Trubel etwas zurückziehen. Ich habe das Zepter bereits Mitte November an meine besten Freundinnen Anja, Camilla und Elisa übergeben. Ich denke, ich habe mich da richtig entschieden und in Anbetracht des Kontos, auf das ich soeben einen Blick werfen konnte, gibt der Erfolg mir recht! Ich muss sagen, ihr macht das noch besser als ich! Den heutigen Stand verrate ich euch nicht, aber es ist: DER ABSOLUTE WAHNSINN!!!!

ICH BIN STOLZ AUF EUCH!!!

Eure Loui

P.S. Sehr gern hätte ich alle Spender hier aufgeführt, aber dafür müßte eine bekannte Zeitschrift wohl noch eine 3. Seite sponsern….

Wer würde sich so etwas ausdenken?

Die Fälschung war alles andere als perfekt. Bilder von verschiedenen Frauen, das ganze Profil wirkte seltsam steril. Als ich es das erste Mal sah, dachte ich für einen Moment, Jakob hätte seine neue Freundin erfunden. Was Louisa aber perfekt beherrschte, das war das Umschalten von devot zu aggressiv. Mal redete sie ihm nach dem Mund, dann, beim kleinsten Anzeichen von Skepsis auf seiner Seite, wurde sie schneidend und brutal.
Pickup Artists lernen das in Kursen. Manche Leute lernen es in ihrer Kindheit. Es ist tatsächlich eine tieftraurige Geschichte. Jakob hat sie an einer Stelle fast das Leben gekostet*. Und die Frau hinter Louisa hat wohl schon lange keins mehr.

*Als Louisa ihn Weihnachten hängen ließ, war er so verzweifelt, dass er kurz darüber nachgedacht hat, Pillen zu schlucken, ich will das gar nciht dramatisieren, es war ein Moment.


07
Nov 13

Aufhören!

Vor etwa fünf Monaten habe ich mit dem Rauchen aufgehört. Ich lag im Bett mit schwerem Schnupfen und ebenso schweren Gliedern, ich konnte sowieso nicht rauchen, also ergriff ich die Gelegenheit: Ich ließ es einfach bleiben. Ich hörte nicht so sehr auf wegen Lungenkrebs. Ob ich mit 75 an Krebs sterbe oder ein paar Jahre später an Alzheimer, das treibt mich nicht um, beides hat seine unschönen Seiten. Ich hörte auf, weil ich nicht mehr schmeckte, was ich aß. Und man kann ja nun sein Leben nicht in den Dienst der Lebensfreude stellen, wenn man nicht in der Lage ist, Mousse au Chocolat von Hackepeter zu unterscheiden.

Was den Schwierigkeitsgrad des Aufhörens angeht, gilt der Nikotinentzug als der Gewaltmarsch unter den Entzügen. Auf dieser Entzugsskala ist das Aufhören mit dem Nägelkauen ein Spaziergang an einem lauen Sommerabend, das Aufhören mit dem Heroin ein 5000 Meter-Lauf, das Aufhören mit einem Partner, der Tricks im Bett kann, liegt knapp darüber. Aber außer dem Alkoholentzug, bei dem man sterben kann (der Körper kann durch das Aufhören so in Panik geraten, dass das Herz sich aus Selbstschutz geradezu in die Luft sprengt), ist der Nikotinentzug also die Königsdisziplin des Aufhörens. Was zur Folge hat, dass man sich, wenn es mit dem Aufhören gut läuft, fühlt wie Leonardo diCaprio am Bug der „Titanic“.

Die ersten zwei Wochen lang hatte ich Magenschmerzen. Statt wie Leonardo diCaprio fühlte ich mich wie Ottmar Hitzfeld. Ich war reizbar, launisch und sexuell unentschlossen, ich bekam die Haut eines Pubertierenden und hustete, ich hustete, als hätte ich angefangen mit dem Rauchen. Recherchen bei Google ergaben, dass die Flimmerhärchen, die die Lunge reinigen, durch die Zigaretten abgebrannt worden waren und erst jetzt wieder ihre Arbeit aufnehmen konnten. Ich rotzte also die Ergebnisse von sechzehn Jahren Rauchen Morgen für Morgen in das Waschbecken und fühlte mich nun nicht mehr wie Ottmar Hitzfeld, es ging mir eher wie Saddam Hussein in dem Moment, als der amerikanische Militärarzt seinen Rachen untersuchte.

Überdosis Kekse mit Schokoladenüberzug

Die Erinnerung an Zigaretten fühlte sich an wie eine verlorene Liebe. Ein Stich, eine nicht vergossene Träne, mein innerer Zustand war Rosamunde Pilcher im Endstadium, mir war nach Weinen zumute und nach einer Überdosis Keksen mit Schokoladenüberzug. Doch ich hielt durch. Und mit den Wochen setzte ein Wandel ein, wie ich ihn nicht für möglich gehalten hätte. Zuerst merkte ich, dass ich keine Kopfschmerzen mehr hatte. Ich merkte sogar jetzt erst, wie oft und wie heftig ich vorher Kopfschmerzen gehabt hatte. Die Schmerzen waren zu meinem normalen Kopfgefühl geworden. Und ich schlief besser ein, so gut schlief ich ein, dass ich zum ersten Mal seit meinem zehnten Lebensjahr vor Mitternacht einschlief, ich ruhte auf einmal acht statt fünf Stunden, ich war so frisch und lebendig wie eine Punica-Werbung. Das letzte Mal, als mein Körper solche Veränderungen durchmachte, sind mir Schamhaare gewachsen.

Das Aufhören ist das Schöpfen des kleinen Mannes, dachte ich. Wer wie ich nichts Neues schaffen kann, der erzwingt Wandel eben einfach durch Verzicht. Sollte sich das, was immer meine größte Schwäche gewesen war, als meine größte Stärke erweisen? So lange ich mich erinnern kann, war ich ein Quitter, ein Hinschmeißer: kein Durchhaltevermögen, nur bedingt abwehrbereit. Musikalische Früherziehung: frühzeitig abgebrochen. Blockflötenunterricht: geschmissen. Klavierunterricht: nie über Muzio Clementi hinausgekommen. Um nicht beim Schwimmunterricht in der Schule mitmachen zu müssen, bin ich zum Amtsarzt gegangen mit der Behauptung, eine Chlorallergie zu haben.

Der Amtsarzt wusste genau, was für ein Exemplar er da vor sich hatte, brummte aber bloß: „Aber wähl bitte nicht in der Oberstufe Schwimmen.“ Ich habe es sogar geschafft, mit Mathematik aufzuhören, obwohl der Kurs verpflichtend war, es war in diesem Fall allerdings nur eine innere Kündigung. Dass ich mit dem Jurastudium aufgehört habe, hat schließlich ermöglicht, dass ich Autor geworden bin. Aufhören kann ich richtig gut. Und es hat mir viel Freude gemacht. Gut, ich kann auf Abendveranstaltungen nicht lässig zum Klavier schlendern und Chopin spielen, aber das, was ich an Überredungskunst bei meinen Eltern aufwenden musste, um mit all dem aufhören zu können, war genug Training, um Chopin kompensieren zu können.

Zum ersten Mal seit der Zeit, als im Fernsehen noch „Die Pyramide“ lief, war ich eins mit dem Zeitgeist. Ich hatte Verzicht geübt und wurde reich belohnt. Um noch mehr eins zu werden, fuhr ich mit meiner Freundin an die Ostsee. Natürlich in ein Biohotel mit Sternen, so eine Art Manufaktumkatalog unter den Hotels. Tagsüber fuhren wir Rad, abends brachte uns der Kellner Grüße aus der Küche und erzählte, sein Heilpraktiker habe ihm gegen sein Burnout-Syndrom empfohlen, seine Wut in die Wellen zu schreien. Der Kellner war natürlich eigentlich Sommelier und aß manchmal Sand, um seine Geschmacksnerven zu trainieren, und ich hatte eine neugewonnene Lebenserwartung von etwa 90 Jahren. Ich war eine Prenzlbergmutti, hätte irgendwo Laub gelegen, ich wäre mit meinen Füßen durchgefahren und hätte es fliegen lassen.

Alle so gesund hier

Dann las ich in einem nachhaltigen Strandkorb das neue Buch von Michel Houellebecq. Der schreibt vom „theatralischen Ton, den die Ober in den mit einem Stern ausgezeichneten Restaurants annehmen, um die Zusammensetzung der „Amuse-Bouche“ und sonstiger „Grüße aus der Küche“ anzukündigen“, was die Hauptfigur an „sozialistische Priester“ erinnert, die eine „andächtige Messe“ wünschen. Es sei das „epikureische, friedliche, gepflegte Glück (…), das die westliche Gesellschaft den Angehörigen der Mittelschicht gegen Mitte ihres Lebens bietet“. Houellebecq, der Hund! Ich blätterte hektisch weiter – tatsächlich: Sex spielte keine Rolle mehr im neuen Houellebecq.

Ich schaute mich um: Alle so gesund hier, alle rotbäckig, gut verdienend, sie würden alle noch mindestens 60 Jahre leben, aber es würde sich anfühlen wie 600 Jahre. Maß halten! Ich war in der Hölle, betrieben mit Solarenergie. Alle hier hatten mit allem aufgehört, mit dem Rauchen, mit der Völlerei, mit dem Ehebruch, mit der lauten Musik, etwas Fleisch noch, ok, aber morgen nur Soja, Wein bloß ein Schluck. Und in der Nacht würden wir alle am Meer stehen und in die Wellen unsere Wut hineinschreien.

Das gute Brot, die gute Luft, das schöne Radfahren und unsere Rockstars sind „Wir sind Helden“. Der nächste Schritt ist unweigerlich die Askese. Auf Wiedersehen „The Bird“, wo ich den besten Burger der Stadt esse, das Rindfleisch so roh, dass die Hufe noch dranhängen, auf Wiedersehen Kater, der mich früher daran erinnerte, dass ich in der Nacht zuvor etwas richtig gemacht hatte, auf Wiedersehen Übertreibung, Ausschweifung. Nur noch eine ferne Erinnerung der heilende Moment, in dem man sich selber nicht mehr im Spiegel sehen kann. Jetzt sind alle im Reinen mit sich, das kann nicht gut gehen.

Wohin es führen kann, wenn eine Gesellschaft mit allem aufhört, was sie rücksichtslos, fordernd, laut und unappetitlich sein lässt, kann man bei den alten Römern studieren. Die hörten auf mit ihren Orgien, mit ihrer Sklavenhalterei, mit ihren Straßenstrichen und ihren Bordellen, in denen man sich vom Blutrausch der Arena erholen konnte, sie hörten auf, die größten Arschlöcher der damals bekannten Welt zu sein – und wurden Christen. Eine neue Welt erblühte, eine Welt der Nächstenliebe und Barmherzigkeit, eine Welt der guten Werke, in der man den Armen die Füße wusch und in der Sklaven Päpste wurden, eine Welt, in der man ganz nah bei Gott war. Und weit davon entfernt, fließend Wasser zu haben.

Gutmenschen, Schlechtmenschen

Ja, seltsamerweise ging mit dem ganzen Schindluder, den die alten Römer getrieben hatten, auch die komplette Zivilisation den Bach runter. Die christlichen Glaubenskrieger waren zwar gut in Fundamentalismus, aber schlecht in Straßenbau, Architektur, Kunst, Schifffahrt, Hygiene, Geburtenkontrolle (na: da erst recht), sie konnten nicht dichten, nicht denken und eine Ars Amandi hat auch keiner von ihnen geschrieben. Sie hatten aufgehört. Mit allem. Die Christen waren im Grunde das, was man heute den Grünen vorwirft. Gutmenschen, die einen Tugendstaat errichteten, in dem insgesamt weniger los war als in Wuppertals Fußgängerzone an einem Mittwochabend um 21 Uhr. Nun lässt sich mit lauter Schlechtmenschen jedoch kein Staat machen und Gladiatorenspiele machen auch bloß Spaß, wenn die handelnden Akteure keine Familienmitglieder sind.

Der österreichische Kulturphilosoph Robert Pfaller schreibt in seinem neuen Buch „Wofür es sich zu leben lohnt“: „Ein Leben, welches das Leben nicht riskieren will, beginnt unweigerlich dem Tod zu gleichen“. Ich bat ihn, mir die Lage der Dinge zu erklären und er sagte, die heutigen Tugendwächter seien tatsächlich Christen, allerdings ohne es zu wissen. Dies habe mit den 1968 entstandenen Bewegungen zu tun, die alle auf ihre Art christlich gewesen seien. Da das Christentum eine „zutiefst ichbezogene, narzisstische Formierungskraft der Psyche“ sei, könne die Verinnerlichungsbewegung so massiv sein, dass sie sich selbst nicht mehr als religiöse Bewegung wahrnehme. Deshalb gebe es Christentum, das von sich selbst nicht wisse. Gibt es also eine kryptochristliche Erweckungsbewegung? Hoffen wir alle auf Wiedergeburt auf einem saubereren Planeten?

„Schöne neue Welt“

Während in „Schöne neue Welt“ sehr akkurat unsere Zivilisation beschrieben ist, wie sie sein wird, wenn wir weitermachen wie bisher, zeigt der 1993 entstandene Film „Demolition Man“ unsere Gesellschaft, wie sie sein könnte, wenn wir aufhörten. Nach Meinung des Internationalen Filmlexikons fehlt es dem Film an „einer halbwegs plausiblen Zukunftsvision“. Eine Kritik, die belegt, dass man beim Internationalen Filmlexikon noch nie von Jonathan Safran Foer, Tipper Gore oder auch von Tippers Mann Al gehört hat.

„Demolition Man“ zeigt eine Zukunft, in der vegetarisch gespeist wird, in der man nicht flucht und in der man dem Klima Wollsöckchen strickt, weil man es so gern hat. (Sex, das nur nebenbei, wird auch recht keusch und berührungslos praktiziert.) Jonathan Foer dürften Sie noch kennen von Ihrem letzten Versuch, keine Tiere mehr zu essen, er lebt ganz gut davon, genau das zu tun und darüber zu schreiben, der Verzicht auf Fleisch als Weg zum Wohlfühlen. Tipper Gore ist für die „Parental Advisory“-Aufkleber auf CDs verantwortlich, da sie die Familienwerte durch Rockmusik gefährdet sah. Und schließlich Al Gore: Der macht uns allen, indem er um die Welt fliegt, deutlich, dass wir durch das Fliegen das Klima beschädigen.

Er ist wie Superman, bloß ohne Privatleben, er ist unermüdlich im Einsatz für Thermometerstabilität und man möchte sich die sarkastischen Finger abhacken für jeden dieser Sätze: Denn schließlich sind wir es ja nicht mit unseren Gefrierkühltruhen und Erfrischungsgetränken, die unter dem Klimawandel am meisten leiden werden, sondern die Ärmsten der Armen. „Wenn ich fertig mit dir bin, sieht dein Loch aus wie Kotelett“, ist ein Auszug aus „Pimplegionär“ von Kool Savas, und ein Satz, den man nicht unbedingt auf dem iPod der achtjährigen Tochter hören möchte, und Tiere, ja mein Gott, die will doch kein Mensch ernsthaft in Transporten durch ganz Europa sehen, in denen ihnen bei lebendigem Leib die Knochen brechen, in denen sie halb wahnsinnig vor Durst dem Verrecken entgegenfiebern. Man will doch ein Huhn als Mitgeschöpf erleben, nicht als Chicken Wing mit süß-saurer Soße.

Die Erde pfeift auf Wälder

Foer und die Gores haben Recht. Man muss mit all dem aufhören, ich gebe bloß zu bedenken: Die Rouladen meiner Mutter, Jay-Z und Fahrten ins Grüne. Foer und die Gores haben Recht. Und sie sind die Pest. Ich fragte Robert Pfaller, wie ich mit meinem persönlichen Dilemma umgehen sollte: Wenn das Aufhören die Wangen doch so rosig macht, aber es mir gleichzeitig hochkommt, wenn ich noch eine einzige PETA-Anzeige sehe. „Nun, wenn es irgendjemandem besser geht, wenn er kein Fleisch isst, dann ist das ja völlig in Ordnung – dann soll er eben ruhig keines essen. Sich dabei aber auch noch einzubilden, dass man dadurch die Welt rettet, finde ich etwas vermessen.“

Was noch schlimmer ist als die andächtigen Aufhörer von meiner Art, sind die moralischen Unternehmer. Das sind die Leute, die professionell anderen Verhaltensnormen auferlegen wollen. Besessene Bekehrer. Zu den wenigen Tätigkeiten, die mehr Vergnügen bereiten als aufhören, gehört eben, andere zum Aufhören zu bewegen. Europa war einmal von Urwäldern bedeckt, die man nach und nach zu Häusern, Schiffen und Brennholz machte. Versuchen die Südamerikaner einen Zivilisationssprung, heißt es: Hört auf, die Lunge der Erde zu zerstören! Die Erde atmet entweder längst nur noch mit einem Lungenflügel, weil wir Europäer den anderen schon vor langem platt gemacht haben, oder die Erde pfeift auf Wälder – ich bin kein Wissenschaftler, nicht einmal besonders häufig im Wald –, aber die meisten Regenwaldretter haben eben auch keine Ahnung. Dafür ein astreines Gewissen. Und was macht man, wenn man ein gutes Gewissen hat? Man verbietet.

Und zwar alles, was sich bei drei noch nicht an einen Baum gebunden hat: Jugendliche dürfen nicht mehr auf die Sonnenbank, versteckte Fette müssen immer einen Personalausweis dabei haben und rauchen darf man in der Öffentlichkeit nur noch, wenn man mal Bundeskanzler war. Der normale deutsche Ordnungsamts-Irrsinn paart sich mit der Prüderie der amerikanischen Internetunternehmen (Apple und Youtube verbieten rigoros Abbildungen von Brustwarzen) und einem Zeitgeist, der merkwürdig geistlos alles als anstößig empfindet, was nicht von der Zeitschrift Ökotest oder Alice Schwarzer als unbedenklich empfohlen wird.

Steuern und Strafen für Dicksein

Rüdiger Suchsland schreibt auf heise.de, wir lebten „längst in einem moralischen Mullah-Regime der feministischen Taliban, die bald Kleidungs- und Gucknormen errichten werden.“ Und Claudius Seidl fügt in der FAZ hinzu, man habe sich ja „schon vom Rauchen und dem Trinken verabschiedet – und dass demnächst die Prostitution und die Pornographie dran sind, ist da nur konsequent.“

Als ich mich bei Robert Pfaller erkundigte, welche der kleinen Alltagssünden wohl als nächste verdrängt werden würden, antwortete er: „Es sind ja jetzt schon mehrere gleichzeitig: Jeglicher außereheliche Sex wird in die Nähe der Vergewaltigung gerückt, die Alkohollimits für Autofahrer werden ohne Grund heruntergesetzt, an Steuern und Strafen für Dicksein wird gearbeitet, ohne Extremsportart kommt man bei bestimmten Bewerbungsgesprächen nicht mehr weiter.“

Man denke nur daran, dass die Affäre des kalifornischen Gouverneurs Schwarzenegger mit seiner Haushälterin oft in einem Atemzug mit der Verhaftung Dominique Strauss-Kahns genannt wurde – in den Köpfen mancher Journalisten scheint Ehebruch tatsächlich ein Verbrechen zu sein. Peter Praschl schrieb im SZ-Magazin: „Man kann keinem Mann über den Weg trauen, keinem einzigen, möglicherweise steckt in ihm der Teufel, man sieht es ihm nicht an.“ Er stellte dort den Fußballer Franck Ribéry, der eine Prostituierte, die erst 17 war, aber – wie sie selbst beteuerte – über ihr Alter gelogen hatte, gebucht hatte, in eine Reihe mit Jörg Kachelmann, den er leichter Hand einfach mal vorverurteilte. Wie wir heute wissen, zu Unrecht. Pfaller sieht nicht die direkten Verbote als die größte Gefahr, sondern den „durch mangelnde Geselligkeit und durch Zerstörung öffentlicher Räume bedingten Verlust der Genussfähigkeit: Man wird uns gar nicht alles verbieten müssen, da wir, unfähig geworden, das meiste von selbst spontan als eklig, politisch fragwürdig, anstößig, unmoralisch und ungesund empfinden und ablehnen werden.“

Abbildungen der Realität

Die Journalistin Iris Radisch ließ jüngst zum zweiten Mal in der Zeit ihrer Abscheu über Pornographie freien Lauf (nachdem sie gerade erst ein paar Monate zuvor ein glühendes Plädoyer für den Vegetarismus gehalten hatte, in dem sie die Frage stellte – und natürlich verneinte – ob wir überhaupt Tiere essen dürften). Radisch sieht es als gegeben an, dass unter Schulkindern Gangbang-Videos verbreitet sind, wobei sie Gangbang mit „Massenvergewaltigung einer Frau“ übersetzt. Nun versteht man jedoch unter Gangbang etwas völlig anderes, nämlich Gruppensex, oder, wie Wikipedia es ausdrückt: Rudelbums. Ausgehend von ihrer Falschübersetzung kommt sie zu dem Schluss: „Schulkinder imitieren ,Gangbang‘-Vergewaltigungen.“ Wer eh Recht hat, der muss sich um die Wirklichkeit nicht mehr kümmern. Und: Wie imitiert man eigentlich eine Massenvergewaltigung? Spielt einer mehrere Rollen oder lassen alle die Hosen an?

Gegen mich, Liebeskolumnist und Ex-Zivi, ermittelte im vergangenen Jahr zwei Mal das Landeskriminalamt Berlin. Wegen Gewaltverherrlichung und Beschimpfung religiöser Bekenntnisse. Ich hatte in meinem Blog das Video einer Hexenverbrennung in Kenia gepostet und das Bild eines Kruzifixes, auf dem Jesus Christus mit phallusartigen Bauchmuskeln im Stil des Kreuzes von San Damiano dargestellt war. Beides waren nur Abbildungen der Realität, aber von der Wirklichkeit mag mancher sich eben einfach nicht mehr belästigen lassen.

Nun mögen die Leser dieser Zeitung meinen, die Herren Dichter und Denker würden wohl übertreiben und außerdem seien diese Sachen, Fleischkonsum, Rauchen und Porno, also, ja auch alle schlecht. Aber eine echte Verbotskultur macht ja nicht einfach so Halt bei den irgendwie noch nachvollziehbaren Sachen. Am Ende möchte eben jeder etwas verbieten, es gibt ja nicht nur Christen, sondern auch eine Menge Muslime, und schließlich darf niemand mehr irgendwas, was dem anderen hinter dessen geistigen Jägerzaun nicht in den Kram passt.

Das Böse wird aus der Welt herausgehalten

Was in Sachen Verbotskultur beispielsweise in den Köpfen junger Migranten rumspukt, ist zur Zeit sehr hübsch auf der Facebookseite des auch in Deutschland recht erfolgreichen österreichischen Rappers Nazar zu sehen. Der aus dem Iran stammende Musiker entschuldigt sich dort bei „seinen muslimischen Brüdern und Schwestern“ für eine Zeile aus dem Stück „Kein Morgen“. Es geht dort darum, dass Nazar tätowiert ist. Und das ist, so erklären die jungen Korankundler, die ihn zu Hunderten wütend angreifen, mit wachsender Ungeduld, verboten, weil man den Körper so zurückgeben muss, wie man ihn bekommen hat. Nazar selbst ist auch ein Anhänger von Verboten, er postet zusammen mit einigen zustimmenden Sätzen ein Video, in dem ein junger Politiker der SPÖ, also der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, das Verbot des kleinen Glücksspiels fordert. Das kleine Glücksspiel, das sind die Spielautomaten, und weil die die kleinen Leute ruinieren, soll man sie verbieten. Denn, so die schlagende Logik des jungen Mannes, wenn es sie nicht gäbe, hätte niemand ein Bedürfnis nach Glücksspiel. Das Böse wird aus der Welt herausgehalten durch Verbotsschilder, so denkt man sich das heute. Das hat zwar nicht einmal bei Adam und Eva geklappt, aber warum sollte man es nicht immer wieder versuchen?

Dass das Bedürfnis nach Rausch nur in der Welt sei wegen der Verfügbarkeit von Rauschmitteln, ist ein frommer Unsinn, der im Grunde nur an der Realität scheitert. Die Inuit, die in Ermangelung von Pflanzen Schwierigkeiten haben, an Rauschdrogen zu gelangen, essen tagelang nichts und schlafen wenig, um so ein kleines bisschen high zu werden. In Sibirien tauschte man ausgewachsene Rentiere gegen einen kümmerlichen Fliegenpilz und weil der Pilz gar so teuer war, trank man seinen eigenen Urin, um nochmal was von dem Rauschmittel zu haben.

Mit Stress klarkommen

Der Mensch mag ein wenig Exzess, nur wenn er langsam ältlich wird und finanziell ausgesorgt hat, dann wird er wie Harald Schmidt und interessiert sich bloß noch für seine Verdauung. John Lennon nannte „Rubber Soul“ das Cannabis-Album der Beatles, „Revolver“ das LSD-Album. Lady Gaga dagegen nimmt verschreibungspflichtige Medikamente, um mit dem Stress klar zu kommen. Hedonismus ist etwas für Hartz-IV-Empfänger, der Künstler von heute hat zwischen zwei Terminen gerade noch Zeit für biotische Ernährung und einen Arztbesuch. Ob man das an der Musik hört, werden erst spätere Generationen sagen können, ich habe einen Tipp bei meinem Buchmacher hinterlegt.

Wir verhalten uns wie nachdenkliche Arbeitsbienen. Den ganzen Tag schwirren wir umher und sammeln und putzen und halten Instand und schließen Lebensversicherungen ab und halten Termine ein und rufen zurück und buchen Waben und sagen Termine ab und ignorieren unser Handy nicht und nehmen einen Zweitjob an und helfen ehrenamtlich bei „Pollen für drohnenlose Larven e.V.“ und abends, da gönnen wir uns keinen Nektar, wegen der schlanken Linie. Wir sehen im Grunde längst aus wie Wespen.

Für den Einzelnen ist das Aufhören eine wichtige Übung. Wir als Gesellschaft sollten schleunigst aufhören mit dem Aufhören. Denn wie könnte ich stolz auf mich sein, mein Rauchen überwunden zu haben, wenn ich nie hätte anfangen dürfen?


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