Nach dem Auftritt des neuen Piraten-Geschäftsführers Johannes Ponader in Günther Jauchs Politshow schrieb Frank Lübberding in der FAZ: “Er nennt sich „Gesellschaftskünstler“. Hier seien Beruf und Privatleben nicht zu trennen. Schon einmal gehört? Aus Wien? Von einem Postkartenmaler? Manche Menschen spüren halt die Berufung, für was auch immer.”
Auf eine Beschwerde Ponaders hin bat Frank Schirrmacher um Verzeihung und diese Passage wurde gelöscht.
Harald Martenstein, heute Kolumnist der ZEIT, schrieb 1997 in seinem Buch “Die Mönchsrepublik” über den Irrglauben, ein Wiedergänger Hitlers käme aus dem konservativen Milieu:
“Ein heutiger Hitler käme nicht von der Bundeswehrhochschule (…). Hitler würde selbstverständlich im Naturkost-Laden einkaufen und Birkenstock-Schuhe tragen, sicher hätte er Sympathien für Greenpeace und andere, möglichst militante Umweltgruppen.”
Der politisch interessierte deutsche Mensch fürchtet sich vor dem politischen Verführer. Vor jemandem, der durch abweichendes Verhalten Bonuspunkte sammelt. Die Nazis waren eine Partei, die die Jugend fasziniert hat. Das war zu einer Zeit, in der die Bevölkerungsstruktur in Deutschland der im heutigen Iran glich, natürlich ein ungeheurer Vorteil.
Eine heutige Jugendbewegung kann allein schon wegen der galoppierenden Vergreisung niemals diese Durchschlagskraft entwickeln wie die Nazibewegung, und doch reicht das Wenige an Energie, das da gerade mit und durch die Piraten in Gang kommt, eine gewaltige Verunsicherung mit sich zu bringen.
Denn schließlich: Seit Jahrzehnten ist diese Energie nur auf dunkle und dunkelste Motive abzielend freigesetzt worden.
Republikaner, Schill Partei, Partei Rechtsstaatliche Offensive oder die NPD – stets war Hass Triebfeder des Erfolgs.
Einzige Ausnahme war “Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative“ (WASG), die mittlerweile mit der PDS zur Partei “Die Linke” verschmolzen wurde.
Außer den linken Sozialdemokraten also nur Rechtspopulisten und waschechte Nazis, die mit wenigen Themen und Andersartigkeit Erfolge erzielten.
Die Skepsis angesichts der zur Schau getragenen Unbürgerlichkeit Ponaders ist bei so unterschiedlichen Kommentatoren wie Nilz Bokelberg und Don Alphonso zu finden. Bei beiden mit dem Tenor: “Wenn Ihr Eure – zum Teil gar nicht so blöden – Ideen an den Mann/die Frau bringen wollt, dann lenkt nicht ab mit Euren dämlichen Zehen und Eurem unhöflichen Getwittere.”
Demnach wäre Ponader also einfach der beknackte Spät-68er-Onkel, der durch permanentes Kettenrauchen selbstgedrehter Zigaretten und generelles Ungewaschensein den kleinen Neffen für Jahrzehnte unempfänglich macht für Kommunismus und Freie Liebe.
Ponaders Neuentdeckung des Geruchsfernsehens ist jedoch mehr: Zum einen stärkt das demonstrative Twittern einen bei den Piraten sowieso vorhandenen Korpsgeist, der sich paradoxerweise gerade in der selbsterlebten Besonderheit ihrer herausragenden Vertreter spiegelt, indem es den anderen ganz klar zeigt: Ihr habt den Knall nicht gehört; zum anderen kann der klug und besonnen argumentierende Ponader vom Dolly Buster-Effekt profitieren: Wer so ausschaut und dann etwas nicht völlig Irres sagt (und sei es nur: “Wir sollten alle sachlich miteinander reden”), der sorgt schon für eine angenehme Überraschung.
Überhaupt gewinnen die Piraten in den Talkshows, weil sie anders sprechen als Politiker. So war Seehofers Röttgen-Tirade die erste Entsprechung der Twitter-Flamewars zwischen Piratenpolitikern. Transparenz und Geradlinigkeit machen Politik aufregend – und ungeheuer unübersichtlich. Wer sich nicht manisch mit der Beschaffenheit der Fraktionen und Fraktiönchen (die größtenteils nur Mannstärke erreichen) innerhalb der Piraten auseinandersetzt, der weiß über diese Partei im Grunde nichts.
Greift die Art des politischen Umgangs, wie ihn die Piraten pflegen, um sich, können sich, wo gestern noch die CDU war, morgen schon Merzianer und Merkelisten für alle sicht- und wählbar gegenüber stehen. Einzelkämpfer mit loser Parteibindung, die sich in einer Art Dauerdemoskopie von ihren kurzzeitigen Unterstützern bestätigen lassen.
Das wäre eine andere Politik. Das wäre ein anderes Land.
Die drängendste Frage wäre: Kann eine Politik, die dauernde Mitgestaltung verlangt, von allen geleistet werden? Und kann der türkische Fließbandarbeiter, die alleinerziehende Mutter, der Krankenpfleger – können Menschen, denen es an Zeit und Muße fehlt, sich rund um die Uhr mit Politik zu beschäftigen, noch repräsentiert werden, wenn die repräsentative Demokratie abgeschafft wird?
Sind die Minderheiten noch geschützt, wenn sie sich nicht selber um ihren Schutz kümmern können?
Und was hat noch einmal Hitler mit den Piraten zu tun?
“Es war Adolf Hitler, der mit seinen deutschen Nazis erstmals das noch junge Urheberrecht mit Enteignung bekämpfte. (…) Die Piraten wollen im Internet jeglichen Datenfluss vom einzelnen Urheber abkoppeln, bezahlt wird, wenn überhaupt, mit lächerlichen Pauschalen, die Kontrolle über das eigene Werk wird den Urhebern und Rechteinhabern endgültig genommen.”
Das schrieb Jürgen Stark, ehemals Herausgeber des Metal Hammer, über die Piraten.
Das nun ist eine andere Liga als Lübberdings Milieubeschreibung, hier geht es nicht um eine allgemeine Verunsicherung, hier geht es darum, wirtschaftliche Interessen durch Verleumdung des Gegners durchzusetzen.
Gleichzeitig sehen sich die Urheber als erste nicht (mehr) repräsentierte Minderheit – was vielleicht ihre Empörung etwas verständlicher macht.
Ein Vergleich der Piraten mit den Nazis hinkt wie Goebbels. Steven Pinker hat in “The Blank Slate” nachdrücklich davor gewarnt, jeden denkbaren Aspekt von Hitlers Glaubensinhalten mit dessen unauslöschlicher Schuld zu vermischen. “Ideas are connected to other ideas, and should any of Hitler’s turn out to have some grain of truth – (…) – we would not want to concede that Nazism wasn’t so wrong after all.”
Sollte sich also herausstellen, dass das Urheberrecht modernisiert werden muss – hatte Hitler dann Recht?
Die Piraten sind die aufregendste politische Erscheinung seit ich politisch denken kann. Das wird vielen so oder ähnlich gehen. Es ist völlig klar, dass dabei Vergleiche verrutschen und Gefühle querschießen.
Vielleicht hilft es, bevor man beispielsweise sagt, dass Christopher Lauer der neue Hitler sei, weil er so oft die Augen rollt, sich zurückzuziehen und zu fragen: “Würde dieser Mann eine Autobahn bauen?”
Wenn wir die Autobahnen mal weglassen.
> Menschen, denen es an Zeit und Muße fehlt, sich rund um die Uhr mit
> Politik zu beschäftigen, noch repräsentiert werden, wenn die repräsentative
> Demokratie abgeschafft wird?
Die repräsentative Demokratie wird doch gar nicht abgeschafft, sie wird nur upgegradet und zwar für alle, die sich dafür interessieren. Ich habe leider auch keine Zeit, mich mit jedem Thema zu befassen, aber ist es zuviel verlangt, hin und wieder mal ein paar Stunden für etwas zu nehmen, das alle oder wenigstens einen selbst betrifft? Wer auch in Zukunft und bei sinkenden Einstiegshürden nichts anpacken will, soll halt wie immer und am Wahlabend zuhause bleiben. Wo ist da die Benachteiligung gegenüber heute?
> Sind die Minderheiten noch geschützt, wenn sie sich nicht selber um ihren
> Schutz kümmern können?
Es gibt doch auch heute Leute, die sich um – sagen wir mal – Flüchtlingskinder bemühen, und niemand verlangt übrigens, das das alle oder eine Mehrheit tun müßte. Warum sollte deren Engagement in Zukunft nachlassen?
Dein letzter Absatz ist vielleicht der wichtigste: Die Piraten sind aufregend. Politik ist so austauschbar geworden. Mal sind die Grünen gegen’s Atom, dann alle, dann die CDU wieder dafür, dann wieder nicht. Aber es spielt auch keine Rolle mehr, denn nach der Wahl ist sowieso alles wieder anders, als vor der Wahl versprochen. Ein äußerst zweifelhafter Guttenberg wird von Merkel gestützt, ein eigentlich recht unproblematischer Röttgen wird von ihr gestürzt. Wieso? So genau weiß man das nicht.
Kurzum: Wer glaubt schon noch an Politik, an Politiker? Da gibt es keine Persönlichkeiten mehr, da sind auch keine kantigen Menschen mehr, die für ein Thema oder eine Sache stehen. Boris Palmer, hier in Tübingen nicht unumstrittener Oberbürgermeister, ist zusammen mit Heiner Geißler eine der wenigen Figuren, die noch eine Position haben und diese auch vertreten.
Nun kommen die Piraten, so recht eine Position haben sie oft nicht, aber sie sind wenigstens authentisch. Dass das wohl schon ausreicht, um populär zu werden, ist eigentlich eher das Armutszeugnis der anderen Parteien als das der Piraten.
[...] Alles Autobahnen außer Hitler | Malte Welding – [...]
Unheimlich wurde es mir, als Barack Obama in Berlin 500.000 um sich scharte, und wie dessen Krönungsfeierlichkeiten emphatisch auf Twitter kommentiert wurden. Mag sich jemand noch daran erinnern? Ein Messias trägt Schlips und Kragen, und präsentiert strahlend weiße Zähne: „Yes, we can!“
Herr Ponader hingegen mag hier stellvertretend stehen für den Neid einer „Digitalen Boheme“, welche sich die Seele aus dem Leib bloggt, aber selbst nach Jahren nicht halb so viele Follower hat wie der Ponader aus dem Stand. Er mal eben locker beim Jauch, während man selbst bloß Kolümchen verlinkt. Da hat es einer aus den eigenen Reihen schlicht zu weit gebracht.
Wäre er hingegen als freischaffender Schauspieler, Regisseur und Autor weiter beim Grundeinkommen geblieben, man hätte den Johannes auf der Republica mit offenen Armen empfangen.
P.S.: Ist der Frank Lübberding in der FAZ übrigens der mit den 191 Followern bei Twitter?
Sehr guter Kommentar zu Nazivergleichen. Hitler ist der einfachste Weg eine politische Diskussison mit Hass zu emotionalisieren und von sachlichen Inhalten abzulenken.
Zur repräsentativen Demokratie frage ich mich ob Minderheiten nicht besser dastehen wenn sie sich selbst “präsentieren” können als wenn sie sich repräsentieren lassen müssen und ob es für eine Demokratie nicht reicht wenn sich an politischen Debatten nur jeweils jene beteiligen welche auch davon betroffen sind.
“Zur repräsentativen Demokratie frage ich mich ob Minderheiten nicht besser dastehen wenn sie sich selbst “präsentieren” können als wenn sie sich repräsentieren lassen müssen”
Schauen wir doch mal nach North Carolina – stehen da die Minderheiten wirklich besser da, nachdem ihnen eine Mehrheit konservativer Arschlöcher das Heiraten verboten hat? Ich bezweifele, dass es selbst zu rot-grünen Zeiten hier eine Mehrheit in der Bevölkerung für die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften gegeben hätte. Dennoch hat sich eine Mehrheit im Parlament gefunden und der Rest der Gesellschaft hat inzwischen aufgeholt.
Man muss die Dummheit der Masse akzeptieren – zu einem gewissen Grad hat die Masse auch ein Recht darauf.
[...] Jede Diskussion ist ja irgendwie am Ende (und jeder journalistische Beitrag auch), wenn ein Hitler-Vergleich fällt. Eine kleine Geschichte des Hitler-Vergleichs mitsamt der neuesten Entwicklungen findet sich hier. [...]
[...] http://www.malte-welding.com/2012/05/20/alles-autobahnen-auser-hitler/ [...]