Die Amateurpornografie im Internet boomt, während die Pornoindustrie schwächelt. Die Aktien führender Erotikunternehmen sinken im Kurs, die Umsätze brechen ein und erstmals erwägt die Industrie, die bisher vermeiden wollte, ihre Kunden vor Gericht zu zerren, Klagen gegen Urheberrechtsverletzer.
Wie kann das Makelbehaftete das Glattpolierte, wie kann das Menschliche das Übermenschliche hinter sich lassen? Das Phänomen Amateurpornografie ist noch nicht einmal im Ansatz verstanden. Steht es für die Demokratisierung des Sex, ist es gar marxistisch geprägt oder ist es im Gegenteil Auswuchs des Kapitalismus? Was treibt die Darsteller an und was die Konsumenten?
Schon der Begriff ist seltsam hybrid. Zusammengesetzt aus dem französischen Wort für Liebhaber und dem aus zwei altgriechischen Nomen (pórne und graphein) entstandenen Kunstwort Hurenschrift, treffen hier also die Hure, der Inbegriff des Professionellen, und der Amateur zusammen.
Und bei Privatamateure.com vermarkten sich die Amateure gar selber. Die Professionalisierung aus Liebhaberei: Man könnte fast meinen, dass der Begriff Amateurpornografie am Ende Synonym für das Web 2.0 und seine Monetarisierungsbestrebungen ist.
Hier geht’s zum «Meat-Shot»
Zunächst ist nicht alles Amateur, wo Amateur draufsteht. Das im Zusammenhang mit Amateurpornografie am häufigsten genannte Portal Youporn.com, ein Youtube-Klon für Einhandsurfer, bietet Filmschnipsel mit anregenden Titeln wie «sexy Ladyboy», «geiles Duschen mit Tittenschwester» und «sexy Lesbians strip and playing Part 10» an.
Alles offensichtlich Profiaufnahmen, man ist sich angesichts der Frisuren nur nicht sicher, aus welchem Jahrhundert sie stammen. Das einzig Amateurhafte an ihnen sind die von dilettantischen Nagelstudioassistentinnen applizierten Fingernägel der Darstellerinnen.
Die grelle Ausleuchtung der epilierten Geschlechtsorgane (der sogenannte «Meat-Shot»), das künstliche Stöhnen der Akteure (als würde man einen Lidl-Angestellten nach einer Acht-Stunden-Schicht bitten, mal ein paar geile Geräusche zu machen), die Plastikbrüste, das Platinhaar – das sind alles Zutaten dessen, was diese Branche sich nicht schämt professionell zu nennen.
Erektionen und Intimsphären
Die so dringlich gesuchten (jeder Blogger, der sich in den Statistiken seines Blogs anschaut, mit welchen Suchbegriffen die Surfer auf seine Seite gekommen sind, wird dort schon mal «meine Nachbarin nackt», «Ex oben ohne» oder Ähnliches entdeckt haben), tatsächlich gänzlich authentischen Privataufnahmen verdanken die Konsumenten zum einen dem alttestamentarischsten aller Gefühle: der Rache.
Exfreunde, die sich an ihren Verflossenen dadurch rächen wollen, dass sie die privaten Aufnahmen ins Netz stellen, sorgen für steten Nachschub. Dieser Vertrauensbruch ist so unmoralisch wie strafbar und für das Opfer demütigend, aber die moralische Messlatte, die der suchende Surfer anlegt, ist in der Regel antiproportional zum Grad seiner Erektion.
Gehackte Festplatten und versehentlich freigegebene Ordner in Tauschbörsen bilden den zweiten Pool. Auch diese Art von Amateurpornografie ist ein brutaler Eingriff in die Intimsphäre der Betroffenen und ebenso wenig wie die Rachefotos hier Gegenstand der Erörterung.
Subversiv oder narzisstisch?
Der größte Teil der Amateurpornografie aber wird von den Darstellerinnen und Darstellern selbst öffentlich gemacht. Die Autorinnen Christiane Ketteler und Kerstin Stakemaier sehen darin die libertäre «Selbstverwirklichungsphantasie spätkapitalistischer Narzissten.» Der Journalistin Iris Radisch zufolge ist die einst im Raum stehende Idee eines Neuentwurfs der Geschlechterrollen durch das neue Medium mittlerweile durch die Realität ad absurdum geführt worden. Die Internetportale böten keine «subversive Gegenkraft zur kommerziellen Pornografie», sondern seien bloß «deren massenhafte traurige Nachäffung.»
Kumulieren in der Amateurpornografie also seelische Störungen und die Vermarktung auch des letzten Bereichs der menschlichen Intimsphäre? Eine ganz andere Deutung bietet der amerikanische Autor Chuck Klosterman. Er schreibt in seinem Buch «Sex, Drugs and Cocoa Puffs», Amateurpornografie würde uns Kontakt zu unserer Realität geben, sie würde uns erden.
Das Internet sei dem Wesen nach marxistisch, jeder Mensch mit einem Modem habe Zugang zu allen Informationen und könne so herausfinden, dass Gwen Stefani nackt recht menschlich sei und die Brustwarzen von Alyssa Milano und einer Kellnerin aus South Dakota einander überraschend ähnlich sehen. Wenn man nackte Berühmtheiten suche, stecke dahinter der Wunsch, zu sehen, dass diese keine Götter seien. Und so ist auch im Boom der Amateurpornografie eine Vermenschlichung der dargestellten Sexualität, eine Vertreibung der sexuellen Superstars aus dem Olymp, zu sehen.
Selbstvergewisserung in drei Stellungen
Nach der Ansicht Klostermans hilft uns die Amateurpornografie, uns im Netz wohl zu fühlen. Angesichts der irritierend perfekten Welt aus Nullen und Einsen sei sie der Beweis, dass hinter all den Daten am Ende Menschen stehen. Das mag um die Ecke gedacht klingen und auf Anhieb scheint die Erwiderung von Mark Ames in der «New York Press» plausibler. Klosterman liege falsch, schreibt er: «Amateurpornografie gibt dem Nerd das Gefühl, das Objekt beschlafen zu können.»
Und doch ist Klostermans Gedanke reizvoll. Wir haben mit dem Internet eine technische Möglichkeit, die vor wenigen Jahren nicht einmal vorstellbar war und wir nutzen diese Möglichkeit, um zutiefst menschlichen Bedürfnissen nachzugehen. Vielleicht sogar dem menschlichsten schlechthin – der Selbstvergewisserung. Denn nur der Mensch ist seiner Selbst gewahr in dem Sinne, dass er sich ein Bild von sich in seiner Umwelt machen kann.
Kamasutra-Akrobatik kann helfen
Wir publizieren unsere Tagebücher, wir teilen unsere privatesten Gedanken in der Hoffnung auf Reaktion, auf Verständnis. Wir werden selber zu Experten und misstrauen den Gurus und wir stoßen die sexuellen Übermenschen vom Thron, indem wir Menschen wie uns selber beim Sex zuschauen.
Einer der Hauptvorwürfe gegen Pornografie, dass nämlich durch die Übernatürlichkeit der Darsteller, die riesigen Penisse und Brüste, die Immer-Verfügbarkeit, die Kamasutra-Akrobatik, die im Sportstudio gestählten Körper zur Frustration und letztlich zur Abkehr vom Beziehungsbeischlaf führen, wird durch die Amateurpornografie deutlich abgeschwächt.
Man sieht, was man sich schon denken konnte: Andere Menschen haben auch Sex. Und sie haben überlange Vorhäute, Erektionsprobleme, Hängebrüste, Cellulite, Schwangerschaftsstreifen, Pickel, ein Repertoire von dreieinhalb Stellungen und kommen zu früh oder gar nicht zum Orgasmus, je nach Geschlecht. Selbst Schambehaarung kehrt auf den Bildschirm zurück. Sie sind wie wir. Und sie mögen sich und allem Anschein nach auch ihren Partner. Amateurpornografie ist sehr beruhigend. Die Demokratie hat sich durchgesetzt auf dem Sexualmarkt.
Noch ein alter Text aus der Netzeitung.
Wo siehst Du den Siegeszug der Amateur-Pornographie? Das scheinbar Amateurhafte ist seit über 30 Jahren fester Bestandteil des Business – sehr schön festgehalten in der Szene des in meiner Erinnerung sehr interessanten Films “Boogie Nights”, der die Parallelwelt Porno portraitierte. Dort versuchte der Porno-Produzent das Video-Zeitalter einzuläuten, in der er Männer von der Straße in die Limousine einlug, Sex mit einer “Darstellerin” zu haben.
Moderne Abarten sind zum Beispiel solche Firmen: http://en.wikipedia.org/wiki/Reality_Kings
Vielleicht hat es was mit der Liebe zu tun, oder vielmehr mit der offensichtlichen Lieblosigkeit, mit der Profi-Sex-AthletInnen sich aneinander abarbeiten. So wie man in der Fußgängerzone oder in der Straßenbahn manchen Paaren einfach ansieht, dass sie glücklich sind und sich wünscht, ein bisschen Teil zu haben.
Das nenne ich Search-Engine-Optimization