Das Bondgirl hatte ihn um Feuer gebeten, aber er hatte keins.
»Macht nichts«, hatte sie gesagt und war dann mit der Zigarette in der Hand neben ihm stehen geblieben.
Roman lag recht unsouverän in einem Liegestuhl, einen Moment lang überlegte er, die Bauchmuskeln anzuspannen, aber er hatte ja keine, beinahe vergessen.
Das Bondgirl war lächerlich schön, es gab da keine Note von feiner städtischer Ironie, eine zu große Brille etwa oder eine doofe Frisur, sie war schön wie aus einem Sechzigerjahrefilm.
Seit Tagen hatten Roman und sein Freund Torben sie schon am Strand gesehen, sie passte hier nicht hin, wenigstens das hatten sie gemeinsam mit ihr, denn selbstverständlich lehnten die beiden Freunde Massentourismus aus allerlei Gründen ab.
Aus einer im Nachhinein nicht mehr rekonstruierbaren Abfolge von Versäumnissen, schweren Fehlern und Dispoproblemen waren sie im Herzen des touristischen Grauens gelandet: Antalya, das dem Reiseführer zufolge nur so hieß, weil Attatürk sich in einem Brief, in dem er Antalya erwähnte, verschrieben hatte, woraufhin es umbenannt worden war. Roman hatte ein Land voll mit Bushoftürken und Drogenhändlertürken erwartet, er war davon ausgegangen, dass ihm an jeder Ecke Prügel oder Drogen angeboten würden und alle schlechtes Deutsch sprachen, mit vielen »Eys« und »Lans«. Es war dann irgendwie anders, aber trotzdem scheiße.
Die Türkei konnte sein, wie sie wollte, für Roman war sie scheußlich. Die ganze Stadt roch nach Karies, Kinder bettelten am Straßenrand, überall gab es zum Erbrechen hässliche Markenklamotten für drei Euro, und der Strand war vollgestopft mit reichen fetten Russen und ihren dünnen Frauen, die sich hochgehungert hatten.
»Schau: Er hat einen Club direkt an der Grenze zu Polen, sie hat da früher getanzt, und noch früher hat sie Blumen verkauft in der kleinen ukrainischen Stadt, aus der sie stammt und wo sie 50 Euro im Monat verdient hat. Jetzt ist sie wohlhabend, an ihrem Glück hindert sie nur ihr fetter Mann, ohne den sie nicht wohlhabend wäre.«
Torben machte ständig Kurzanalysen der Leute am Strand, seit Tagen wiederholte er sich, nur die Details wechselten noch von Zeit zu Zeit. Mal war er Besitzer einer Schlachterei, in der Tschernobylschweine für den deutschen Markt gekeult wurden, und sie war abends mit dem Schlauch durch die Blutlachen gewatet, mal gehörte ihm eine mittelgroße Pornoseite, und sie war sein erfolgreichstes Webcammädchen. Roman hielt die Analysen für akkurat, aber öde. Nur zum Bondgirl fiel Torben nichts ein.
Und nun stand das Bondgirl also da, und Roman wusste nicht, wie er sie anschauen sollte, ohne anzüglich zu wirken. Frauen wie sie wurden von Männern, wie Roman keiner war, als Bildschirmhintergrund heruntergeladen.
Romans letzte Freundin war Melanie gewesen, ein kräftiges Mädchen mit kurzen Fingern und einer Afrika-Obsession, er hatte sie in einem Workshop für interkulturelle Studien kennengelernt, und beinahe wären sie zusammengezogen, wenn sie nicht einen Asylbewerber aus Liberia geheiratet hätte, erst nur, um ihm den Aufenthalt zu ermöglichen, aber dann doch ernsthaft.
Roman hatte den Übergang nicht richtig mitbekommen, auf einmal eröffnete ihm Melanie, dass sich etwas ereignet habe, etwas, das größer sei als sie, und da Roman grundsätzlich abschaltete, wenn sie so pathetisch losschwurbelte, hatte er seine eigene Trennung verpasst. Aber irgendwie gab es da so ein Ding zwischen Afrikanern und kräftigen Europäerinnen mit Hang zum Ethnokopftuch, das hatte er schon verstanden.
Wenn also die ziemlich irdische Melanie ihn schon verlassen hatte, was sollte dann das Bondgirl von ihm wollen? Und doch stand sie da, es kam ihm vor, als spielte sie mit ihrem Haar.
Sie redeten dann nicht, wie Roman es gewohnt war, also über etwas, über Politik, über Gesellschaft, über das Verhältnis von Deutschen und Tür-ken, sondern sie redeten wie Kinder oder Idioten, indem sie einfach immer das mit Worten belegten, was sie gerade machten.
»Ich geh mal ins Wasser.«
»Komm, wir spielen Ball.«
»Ich lass mich noch ein bisschen bräunen.«
»Ich creme mich erst noch ein.«
Stunden verbrachten sie so, und er erfuhr nichts über das Bondgirl. Nicht, weil sie etwas verschwiegen hätte, sondern weil er sich schlicht und ergreifend nicht fragen konnte, was sie beruflich machte.
Oder hätte James Bond das etwa Honey Ryder gefragt? Als die Sonne langsam unterging, sagte sie, sie gehe jetzt mal ins Hotel, und er erwiderte, es sei sein letzter Tag. Sie bat ihn, seine Telefonnummer und Adresse aufzuschreiben, falls mal jemand schreiben wolle.
Falls mal jemand schreiben will. Er wiederholte den Satz einige Male, während er seinen Koffer packte, schaute grimmig in den schmutzigen Spiegel neben dem Bett und sagte halblaut: Na klar.
Die nächsten Wochen in Deutschland holte er sich wenigstens einmal am Tag einen runter auf die Fotos, die sie am letzten Tag gemacht hatten. Die Fotos waren das Einzige, das in seinem Leben noch lebendig war. Es schien ihm, als wäre die Luft durch Tapetenkleister ersetzt worden.
Auch wenn Roman immer unzufrieden war, war er doch keiner von den Leuten, die sich über alles aufregen. Er war so sicher, dass die Dinge schlecht endeten, dass er es für völlig sinnlos hielt, dagegen anzunörgeln. Roman war sehr gelassen in seinem Leid. Aber jetzt schimpfte er über das Wetter, über den elenden grauen Himmel, er beschwerte sich in der Mensa über die kalten Kartoffeln und beim Obsthändler über die steinharten Birnen.
Er saß gerade vor dem Fernseher und schrie den Nachrichtensprecher an, weil der schon nach sieben Minuten, was ein neuer Rekord war, zu den Sport- und Wetternews überging, als das Bondgirl anrief.
»Wie geht es dir?«
»Danke, gut.«
»Ich bin jetzt wieder in Ankara.«
»Ist es da schön?«
»Du kannst mich ja mal besuchen.«
»Also ich könnte tatsächlich.«
»Ich würde dir alles zeigen.«
Am nächsten Morgen wartete er ungeduldig vor dem Reisebüro, bis endlich eine übergewichtige Blondine den Laden öffnete.
Nach Ankara fliegen keine Touristen, nach Ankara fliegen nur Türken. Obwohl Roman gerade erst eine Seminararbeit über Integration geschrieben hatte und ein ausgewiesener Einwanderungsbefürworter war, konnte er den dicken Frauen mit ihren Trauerkloßgesichtern und den winzigen Männern mit ihren billigen Anzügen über den Strickwesten nichts abgewinnen. Jeder Passagier hatte mindestens drei Plastiktüten dabei, keinen Moment hätte Roman sich gewundert, wenn jemand eine Ziege über den Gang getrieben hätte.
»Ich würde dir alles zeigen.«
Er hatte mit Paul, Ben und Jimo diesen Satz hin und her gewendet, und herausgekommen war: Paul fand, er riskiere zu viel. Sie sei nur höflich gewesen, habe eine leere Geste gemacht, und nun werde er mit ihr eine Woche lang alle Sehenswürdigkeiten Ankaras besichtigen, zusammen mit ihrem Freund. Ben warnte ihn, er werde sich verlieben, und das habe einfach keinen Sinn, weil aus der Sache nichts werden könne. Jimo sagte, man solle nicht so viel Aufwand betreiben wegen einer Frau, er selbst würde Derartiges ständig tun, und niemand solle seinem Beispiel jemals folgen, in egal was.
Roman schwitzte bei der Ankunft. Er versuchte die Arme so anzuwinkeln, dass man die Schweißflecken unter seinen Armen nicht sehen konnte, was mit einem Koffer in der Hand nicht ganz leicht war.
Kaum war er durch den Zoll gewunken worden, kam sie ihm entgegen. Sie umarmte ihn, und er wand sich rasch heraus, weil er nicht wollte, dass sie ihn roch. Sie sagte, dass sie vorgehabt habe, so zu tun, als kenne sie ihn nicht, sie hätte gern sein erstauntes Gesicht gesehen. Aber er sah wohl nicht wie jemand aus, der einen Scherz vertragen konnte, dachte er, und wahrscheinlich hatte sie ganz recht damit.
Sie sagte: »Komm, wir nehmen ein Taxi«, und während der Fahrt sagte sie zu ungefähr jedem Gebäude einen kleinen Satz. Sein Opa Hermann hatte das auf Autofahrten auch immer so gemacht. Je älter er wurde, desto mehr hatte er dazu geneigt, einfach nur noch zu sagen, was er sah. »Bäckerei Hegemann: Berliner 65 Pfennige. Kiosk Pflaumer und Söhne. Mir mulle net, mir helpe met.« Roman machte das jetzt einfach auch. »Schau, ein Schuhputzer. Oh, Ralph Lauren. Guck mal, wie der über-holt.« Das tat sehr gut.
Als sie ihn eben am Flughafen umarmt hatte, hatte er sie riechen können (sie ihn hoffentlich nicht!), und obwohl die Nase sich schnell an neue Gerüche gewöhnt und dann gar nichts mehr riecht, roch er sie immer noch. Es musste ein bondgirlspezifischer Geruch sein, ein niemals vergehender Duft aus Sonne, Meer und Ficken mit etwas Zitrone und heißem Wasser.
Nach ihr würde er unglücklich sein, das stand fest.
Sie hatte eine wunderschöne Wohnung, eine Filmwohnung. Sie erklärte ihm Möbelstück für Möbelstück die Einrichtung, und dann zeigte sie ihm diverse Fotoalben, die bewiesen, was keines Beweises mehr bedurft hätte: Das schönste Mädchen der Welt war schon als Kind schön gewesen, Kind einer schönen Mutter und eines schönen Vaters, Schwester einer schönen Schwester und eines schönen Bruders. Keine modischen Fehltritte. Seit zweiundzwanzig Jahren makellos. Im Kopf bereitete er eine Spitzfindigkeit vor, etwas Spott zum Runterkommen, aber es gelang ihm nicht, irgendetwas musste ihm auf dem Weg vom Flughafen abhanden gekommen sein.
Zwei Flaschen Wein tranken sie und schliefen zwischen Nacht und morgen nebeneinander ein, und als er aufwachte, küsste er sie, noch halb im Traum. Alles geschah wortlos, sie gingen ins Schlafzimmer, er kam viel zu schnell, aber er musste sich nicht erklären, sie machten einfach immer weiter.
Gegen Mittag tranken sie etwas Weißwein und Mineralwasser in der Küche. Das gleißende Licht, das durch das kleine Fenster auf ihren Rücken schien, ließ den kaum sichtbaren Flaum schimmern, der sich vom Po ihr Rückgrat entlang zu den Schulterblättern hinzog – wie eine. Oder doch eher.
Für Roman hatte die Welt immer nur aus Worten bestanden, und jetzt, da es keine Worte mehr gab, war er zum ersten Mal in der Wirklichkeit. Wenn eine Katze, die in einer Wohnung groß geworden ist und immer in einer Wohnung gelebt hat, zum ersten Mal die Welt hinter der Haustür sieht, dann erlebt sie nicht die Freiheit. Sie fürchtet sich zu Tode.
Die nächsten Tage vergingen im Sinnlichkeitsdelirium. Es gab keine Abstraktion mehr, die Welt bestand nur noch aus Fühlbarem. Roman war so heiß wie niemals zuvor, er bestand zu zwei Dritteln aus Wasser, und das spürte er in jedem Moment, alles war nur noch Feuchtigkeit und Hitze und Geruch und Farben. Nur ab und an drangen ein paar Fakten zu ihm durch: Sie studierte Germanistik, deswegen sprach sie so gut Deutsch. Sie würde nicht nach Deutschland ziehen können, weil ihre Mutter krank war.
Er hatte sich das nie gefragt: warum sie so gut Deutsch sprach (weil Bondgirls immer Deutsch sprechen). Und was sein würde (weil es immer schlecht sein würde).
Am letzten Tag hatte er so etwas wie einen Gedanken.
Sie hatten sich wieder einmal die Luft gegenseitig weggeatmet, der Raum war stickig und sein Hals sandig. Er ging ins Bad und trank das abgestanden schmeckende Wasser aus dem Hahn, ohne dass er sich anschließend weniger ausgetrocknet fühlte. Er trat auf den Balkon. Trotz der Hitze eilten Geschäftsmänner in dunklen Anzügen über die Bürgersteige. Er würde hier nicht leben können.
Sie weinte, als er ins Flugzeug stieg, bald würde sie ihn besuchen kommen. Sie gab ihm einen Brief.
Im Flugzeug dachte er, dass er sie nie kennengelernt hätte, wenn Melanie ihn nicht verlassen hätte. Einen Moment lang sah er die Zukunft offen vor sich liegen. Nicht alles musste immer schlecht enden. Manchmal wurden sogar aus schlechten Dingen gute. Er lächelte.
Dann dachte er: »Wenn ich jetzt abstürze, dann war es doch schlecht, dass Melanie gegangen ist.«
Er las ihren Brief, und die Buchstaben verwandelten sich in Tinte, das Papier in Holzfasern. Er klemmte den Brief zwischen die Kotztüte und die Sicherheitshinweise, und kurz glaubte er, eine Ziege zu sehen. Das Flugzeug ruckelte bedenklich. Jetzt war er wieder er selbst.
Als er am Flughafen ankam, kaufte er sich die taz. Die Welt war zuverlässig schlecht geblieben. Drei Mal ging er nicht ans Telefon, als sie ihn anrief, dann hörte er nie wieder von ihr.
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