Lehrer erzählen einem privat gerne, es gäbe ein neues Phänomen unter Schülern: Bekommen sie eine schlechte Note, sind sie nicht etwa geknickt; sie bestehen darauf, eine bessere Note zu bekommen. Sie hätten doch so viel gelernt.
Sie glauben, durch ihr Verhalten einen Anspruch auf eine gute Note erworben zu haben.
Insofern ist unser in diesem Moment noch amtierende Bundespräsident Christian Wulff trotz seiner blechernen altmodischen Stimme und seines alten Haars ein Kind seiner Zeit, ein ins Monströse aufgeblasenes Kind allerdings, das ein ganzes Land dazu zwingt, sich mit seinem Anspruch zu befassen.
Eine von den wenigen verbliebenen Wulff-Unterstützern in den Fernsehshows ins Spiel gebrachte Lesart der Skandalflut um den Präsidenten ist: Es gelte die Unschuldsvermutung.
Um zu begreifen, wie abseitig diese Idee ist, muss man einen Moment lang versuchen, den Begriff Unschuldsvermutung zu verstehen: Er existiert zum einen wegen der logischen Unmöglichkeit, gerichtsfest zu beweisen, etwas nicht getan zu haben, zum anderen, weil der in Rede stehende staatliche Eingriff so ungeheuer massiv wäre.
In allen anderen Gebieten des Lebens gilt die Unschuldsvermutung nicht. Glaube ich etwa, dass mein Partner mich vernachlässigt, dann muss ich ihm das natürlich nicht nachweisen. Ich muss dem Kellner nicht beweisen, dass mir das Essen nicht schmeckt und dem Verkäufer nicht, dass ich in der Hose dick aussehe.
Und natürlich muss ich dem Präsidenten nicht nachweisen, dass er nicht für das Amt taugt. Ich muss es nur so empfinden.
Wenn ich hier “empfinden” sage, dann lenkt das davon ab, dass es natürlich um Einiges geht. Korruption legt ganze Staaten lahm, sie bevorteilt die Unlauteren und beschädigt die Innovativen und da sie ein gar so vernichtendes Verbrechen ist, man sie aber niemals nachweisen könnte, da man ja nicht in den Kopf der Staatsdiener schauen kann, gilt es für alle Amtsträger, den Anschein zu meiden.
Was damit gemeint ist: Ich darf niemals Geld oder geldwerte Vorteile annehmen, denn niemand kann hinterher sagen, warum ich wie entschieden habe.
Das gilt vom Lehrer bis zum Standesbeamten, vom Polizisten bis zum Präsidenten: Man muss etwas genauer hinschauen als der gemeine Autor, wer einem was schenkt, weil der Autor beinahe nie über den Bau von Autobahnen oder über Mathematiknoten oder Bußzettel entscheidet.
Die Idee, man habe zwar das höchste Amt im Staat inne, sei aber zu behandeln wie der Geringste unter den Bürgern seines Landes, die Idee, man habe einen Anspruch auf dieses Amt, weil man doch so fleißig war: Diese Idee ist in ihrer Zeitgemäßheit herzwärmend.
Und sie ist der Grund, warum man Wulff nicht nur fortjagen, sondern auch noch auslachen sollte.
dat trifft den Nagel auf dem Kopf :)
Das mit dem Auslachen ist schon in Arbeit.
[...] “Der Anspruch” (Malte [...]
[...] Lesenswert: Malte Welding dazu [...]