Meine Mutter sucht nach Worten, ich höre an ihrem Atmen, um was es geht. Schließlich sagt sie:
„Papa ist gestorben.“
Danach redet sie weiter und ich sage auch etwas und dann verabschieden wir uns und ich kann nicht weinen.
Mit jedem Menschen stirbt eine ganze Welt, heißt es. Wenn ich die Kopenhagener Deutung der Quantenphysik richtig verstehe, gibt sie diesem Satz recht. Aber was verstehe ich schon von Physik.
Ich versuche, seine Welt nachzuzeichnen, aber alles ist bereits verblasst.
Er hat in Oxford studiert, an einem Wochenende 1969 in London meine Mutter kennen gelernt, nie hat er geswingt, immer war er ernst und tief, im Grunde hatte er meiner Mutter, der Weltmeisterin des letzten Wortes, nie etwas entgegenzusetzen, aber den Kalten Krieg, den sie mit jedem Liebhaber zuvor ausgefochten hatte, den konnte er kämpfen, da war seine Eiszapfenfamilie ihm ein gutes Terrorcamp gewesen. Seine im Krieg verstummte Mutter, sein verängstigter, brutaler Vater, die erschossenen großen Brüder: Sie alle hatten ihn vorbereitet auf eine Frau, die Liebe für eine Erfindung der Männer hielt, die sich nie von ihm beschützen ließ, die ihn manchmal wochenlang nicht anrief. Woher er wusste, dass sie ihn dann eben doch liebte?
Er wusste es nicht, sagte er. Er wollte es.
Und sowieso: “Liebe ist nur ein Wort.”
Kinder sind eine Tatsache.
Sein Wille geschehe.
Mir zwang er seinen Willen nie auf, ich durfte studieren, was ich wollte und ich durfte überhaupt: alles. Sonst wurde auf den Baustellen, die er verantwortete, kein Stein getragen, ohne dass er den Transportweg abgesegnet hätte.
Aber das sind alles Klischees, die verstummte Mutter, der brutale Vater. Verstummt weshalb? Brutal inwiefern? Was hast du gedacht, als deine Brüder erschossen wurden? Wer hat dich getröstet? Wer hat sie überhaupt erschossen? Oder sind sie einfach gefallen? Als seien sie damals einfach umgefallen wie Plastiksoldaten, seine Brüder mit den leuchtend weißen Zähnen auf den uralten Fotos.
Was hast du gedacht, als du Mama zum ersten Mal gesehen hast? Das hat er mir genauestens erzählt, aber ich war gerade erst in der Grundschule. Im Bad standen wir, morgen für morgen, ich bewunderte seinen dicken Schwanz und seine mächtigen Eier, er seifte mich mit Rasierschaum ein und ich durfte mich klingenlos abschaben. Dabei erzählte er mir Geschichten, tausende Geschichten, von Oxford, von Bern 1954, von seinem ersten Haus, von seiner ersten Prügelei.
Alles weg.
Von seinen Frauen vor meiner Mutter niemals ein Wort.
Ich rufe Anna an.
Niemand geht ans Telefon.
Bei Jakob niemand zuhause.
Andreas geht auch nicht dran.
Greta.
Ich zögere, dann wähle ich ihre Nummer.
„Du hast Nerven.“
„Greta, mein Vater ist gestorben.“
„Oh nein.“
Sie fängt an zu weinen.
„Aber Paul, mein armer kleiner, was… Wie kann das denn… Er war doch so.“
„Zuletzt nicht mehr so sehr.“
„Soll ich vorbei kommen?“
„Also wenn.“
„Ich bin gleich bei dir.“
Sie kommt eine halbe Stunde später und nach fünf Minuten schlafen wir miteinander und nach einer Viertelstunde liegen wir Arm in Arm auf dem Bett und sie weint.
Dann putzt sie ihre Nase wie ein untröstliches Kind und sagt:
„Aber Paul. Das ändert jetzt nichts.“
„Natürlich nicht.“
Was sollte schon noch etwas ändern?
Spät in der Nacht zieht sie sich wieder an.
Während wir miteinander schliefen, hat sie mich ganz fest gehalten und ich habe sie ganz fest gehalten und wir wussten beide, dass wir uns keinen Halt mehr geben konnten.
Dann liege ich noch lange wach und schließlich träume ich, dass ich meinem Vater sagen muss, dass er tot ist, aber er will nicht zuhören und als ich es ihm schließlich doch sage, schaut er mich an und sagt: „Aber warum sagst du denn sowas? Von dir hätte ich das am wenigsten erwartet.“
Am nächsten Morgen ruft Elisa an.
Ich erzähle ihr, was passiert ist und dass ich jetzt allein sein müsse.
Sie sagt, das würde sie verstehen und dass es ihr leid tue und dass sie ihn gern kennen gelernt hätte.
Wann denn die Beerdigung sei.
„Ich sage dir Bescheid.“
Den Rest des Tages starre ich aus dem Fenster, in den Fernseher, auf meine Hände.
Abends rufe ich meine Mutter an.
Sie klingt wieder wie sie, teilt mir mit, dass die Beerdigung in drei Tagen stattfinden wird, das Beerdigungsinstitut wird sich um alles kümmern, nein, sie kommt zurecht, es reiche, wenn ich pünktlich sei.
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gefällt mir!?
“Alles weg” fasst das Gefühl ganu gut zusammen.
Unglaublich, dass man sich für solche Texte nicht ein Buch kaufen muss, sondern sie in einem Blog lesen kann!
Schön. Traurig. Gar nicht schön. Tröstlich. Getroffen.
malte – furchtbar guter text! mir läuft es noch jetzt den rücken runter -