„Bea hat wieder nach dir gefragt. Ich habe gesagt, dass ich auch nicht mitbekomme, was du da jetzt machst. Ich habe ihr gesagt, sie könne ja deine Homepage lesen, dann würde sie vielleicht etwas von ihrem Bruder erfahren.“ Meine Mutter kann ihre Stimmbänder runzeln. Weil ich angetrunken bin und sentimental, raffe ich mich zu einer Frage auf:
„Wie kommt es eigentlich, dass ich alles, was ich als Kind gemacht habe, mit Papa verbinde und nichts mit dir? Er hat doch noch mehr gearbeitet als du. Wenn das überhaupt möglich ist.“
„Hast du eine Psychotherapie angefangen?“
„Warum fragst du?“
„Weil diese Quacksalber, bei denen es zu einem Medizinstudium nicht gereicht hat, immer jedes Versagen auf die Mutter schieben. Aber ich kann dir das gerne beantworten.“ Meine Mutter zögert. Dann sagt sie mit kräftiger Stimme, eine Spur zu laut: „Weil dein Vater eben auch ein totaler Macho ist. Bei der Geburt von Franziska, als ich ihm das zweite Mal ein Mädchen geboren hatte, schaute er mich an, als wolle er sagen: Und? Wo ist jetzt mein Sohn? Als er mich dann gegen jede Vernunft, entschuldige mein Lieber, aber das war es eben: unvernünftig, zu einem dritten Kind überredet hatte, haben wir uns fast scheiden lassen wegen der Frage, ob wir vor der Geburt das Geschlecht wissen wollen. Er hätte, wenn dabei rausgekommen wäre, dass es wieder bloß ein Mädchen wird, mich wahrscheinlich gedrängt, dass ich abtreibe.
Als es dann ein kleiner Paul war, ist er mit dir im Triumphzug durch den Tennisclub marschiert, hat Fotos von dir rumgezeigt, wusste, welche Impfungen wann benötigt werden, war neidisch, dass ich dich säugen konnte. Er hatte auch keine Zeit, aber er hat dann nachts nachgearbeitet, wenn er tagsüber stundenlang Tennis mit dir gespielt hat. Er hat sich für dich aufgeopfert wie ein Pinguinmännchen. Hätte ich das auch noch tun sollen?“
Mir fällt keine intelligente Antwort ein. Ich habe auch diesen Pinguinfilm nicht gesehen.
Also sage ich: „Ja.“
„Natürlich, ich vergaß. Man lernt in diesen Therapien ja, die nächsten Verwandten mit ihren Versäumnissen zu konfrontieren. Hätte ich einen Therapeuten, würde ich dich fragen: Was macht die Arbeit?“
Ich bin in keiner Therapie. Ich brauche auch nicht einen Therapeuten, ich brauche ein Team von Spezialisten, das sich mir rund um die Uhr widmet.
Nach dem Telefonat umarme ich von hinten Greta, die an ihrem Schreibtisch sitzt und hoffe, dass sie jetzt anfängt, über meine Mutter zu lästern. Aber sie sagt: „Ich muss das noch bis morgen fertig machen. Hast du nichts zu tun?“
!
Awww armer Paul. Dass seine Mutter die Stimmbänder runzeln kann finde ich sehr gelungen.
@Maltefan: Gelungen finde ich es auch. Aber schon ein bisschen verstörend, oder?
Woher kennst du mein Leben? Aber wenn du so darüber schreibst kann ich auch lachen.
Und ich will dieses Team von Spezialisten…
Ich habe den Pinguin-Film gesehen, bin 5mal dabei eingeschlafen. Dass meine Mutter an allem Schuld ist, habe ich aber Gott sei Dank vorher schon gewusst.
Ja, komplexes Desaster. “Mutter” etwas zu herb und rauh, kommt mir vor. Vater selbstverliebt (ist ja reiner Narzissmus, die Nachfolger des eigenen Geschlechts zu bervorzugen). Die Schwestern eigentlich noch ärmer dran… Jeder Mensch findet bei seinen Eltern mindestens 1 Punkt, den er sich dringend zur Warnung nehmen kann. Hier? Vielleicht Arbeit zur Befriedigung des Geltungsbedürfnisses? Und: Kinder nach Plan? Der Plan geht nie auf. Wer Kinder hat, hat sie immer zur falschen Zeit und muss auf die Vorteile der Kinderlosigkeit verzichten. Die meisten Leute geraten in heillose Panik, wenn sie das Wort “verzichten” hören.
danke! zu schön, konnte die beiden fast im Ohr hören