Pipi

Ich sitze hinten im Auto. Ich bin 4 Jahre alt. Meine Mutter gibt einen meiner Kindergartenfreunde bei seinen Eltern ab und hat mich zurückgelassen.
Da sitze ich.
Eingeschlossen.
Und merke, dass ich Pipi muss. Jetzt gleich wäre nicht schlecht. Die seligen Zeiten des einfach Laufenlassens sind vorbei, gerade wurde man noch für ein Bäuerchen gelobt und dann musste man schon auf den Topf, aber immerhin wurden noch Gesänge angestimmt für diese Leistung und ganz plötzlich war es nicht mehr drin, einfach mal entspannt am linken Bein entlang laufen zu lassen und dann laut zu weinen.
Großer Junge. Ja, klar. Vor allem doch: riesiges, unentrinnbares Auto. Ich klopfe an die Scheiben.
Wenn es jetzt anfängt zu regnen, dann bin ich geliefert, man hat mich auf das Geräusch des laufenden Wasserhahns trainiert, ich muss nur sehen, wie meine Mutter ans Waschbecken geht und schon puller ich los.
Regen ist da noch eine ganz andere Liga.
Bestimmt hat mich meine Mutter vergessen.
Ich überlege, ob ich unartig gewesen bin.
Jeden morgen mache ich im Kindergarten den gleichen Fehler: Ich küsse meine Mutter auf den Mund und habe dann bis zur Kakaopause den schrecklichen Geschmacks ihres Lippenstifts auf den Lippen.
Ich bin noch nicht lernfähig, ich küsse jeden Morgen mit der immergleichen Begeisterung und würge dann verstohlen. Vielleicht hat sie das gesehen.
Ich glaube nicht, dass sie mich noch liebt, nicht wie früher.
Gerade erst wurde von einzelnen Mitgliedern meiner Familie an mich herangetragen, ich solle “Fertig” rufen, wenn ich mein Geschäft auf der kalten Toilette verrichtet habe. Dann würden sie kommen und mich abputzen.
Dabei haben wir gegenüber eine Baustelle.
“Wenn ich fertig rufe und die Bauarbeiter hören auf, weil sie denken, ihr Chef habe fertig gerufen, dann bekommen die den Ärger.”
Jemand musste also stehen bleiben.
Aber allein die Idee sprach Bände. Eine Abkühlung des Klimas hatte stattgefunden.
Hätte ich Freud gelesen, dann wäre mir klar geworden, dass ich dabei war, das Possierliche zu verlieren und nun davor stand, in voller Unansehnlichkeit in die Latenzperiode zu schlittern.
Aber selbst ohne Freud wusste ich: Ich war in einem Auto ausgesetzt worden.
Und musste pinkeln.
Das, verehrte Damen und Herren, war das Ende meiner Kindheit.

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8 Kommentare

  1. Sehr schön

  2. Und wie ging die Geschichte aus?

  3. kühle Geschichte Bruder

  4. @Maltefan
    Ich meine mich zu erinnern, dass sie ohne Überschwemmung ausging.
    Aber vielleicht habe ich das auch bloß verdrängt.

  5. Claire Schlamm

    Angesichts eines drohenden Bürgerkriegs in Persien, einer Situation in Korea, die am eskalieren dran ist, 300 Mrd. Neuverschuldung des Bundes, verängstigten Karstädlern, Schweinegrippe bei Japanern in Düsseldorf, you name it, find ichs, ehrlich gesagt, geradezu zynisch, mindestens aber unverhältnismäßig, eine solche, die Kindheit ohne Sinn und Verstand idyllisch verklärende Nacherzählung à la “mein schönstes Ferienerlebnis” der Öffentlichkeit zuzumuten. Schämst du dich eigentlich nicht? Manni Pütz, kölsche Frohnatur, Psychiater und Autor des Knallers “Gott”, pflegt auf derlei Pipikram zu entgegnen: “Er hatte einen Mutterkomplex und brachte deshalb den Vater um, verständlich.”

  6. Claire Schlamm

    I´m sorry, der Gute heißt Lütz.

  7. mir ging es ähnlich. auch im auto. auch wartend eingeschlossen. nicht pipi, sondern hatte ich mir im R16 aus neugier, zeitvertreib und unwissen die so hübsch-seltsam orange glühenden teile des zigarettenanzünders in die linke handfläche gedrückt.
    das ende der kindheit bestand dann in den gedanken, die ich hatte während ich instinktiv versuchte meine hand an der herbstlich beschlagenen fensterscheibe zu kühlen.

  8. … und heute höre ich joss stone … kanns ja auch nicht sein.

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