Rückwärts immer, vorwärts nimmer

Vorher

Dem kleinen Jungen Paul war nachts schlecht gewesen, dann hatte er Durst gehabt, dann war ihm wieder schlecht. Nicht, dass mich das geweckt hätte, schlafen konnte ich sowieso noch nicht, weil die Stand-By-Schaltungen aller Wohnzimmergeräte so hell waren. Naja: Nicht nur deswegen.
Ich malte mir aus, wie ich Greta am Telefon von der Notwendigkeit eines Treffens überzeugen würde, schlummerte bei dieser Vorstellung kurz ein und stand sofort wieder senkrecht auf meiner Matratze, als ich mich daran erinnerte, wo Greta gewesen war: bei einem Anderen.
Ich griff um 5:30 Uhr zu meinem Handy und smste:
„Wer?“

Als ich dann tatsächlich mit Kopfschmerzen und verkrampftem Rücken eingeschlafen war, hüpfte der kleine Junge Paul auf meinen Bauch und sagte: „Hallo.“

Ich sagte „Och Paul“ zu Paul und dann stand Jakob in der Tür, mit einem überhaupt nicht einladend aussehenden Schlabberbrot und fragte: „Gut geschlafen?“

Jetzt sitze ich mit einem Glas voll H-Milch da und versuche, aus Jakobs Verhalten zu schließen, was er nun machen wird. Ich höre ihn ins Bad gehen, geräuschvoll seinen Rachen von Schleim reinigen, dann in das Schlafzimmer gehen. Schicht um Schicht wird Jakob seriöser, schließlich steht er rachenbereinigt im Anzug da. Mit Weste.
„Hui“, sage ich. „Wo geht’s denn hin?“
„Na, in die Kanzlei“, sagt Jakob mit nicht besonders vorwurfsvoller Verständnislosigkeit.
„Hast du denn einen Termin mit einem Mandanten?“, forsche ich nach.
„Ich bin der Mandant, habe ich doch gestern erzählt. Ich muss schauen, was mir bevorsteht.“
„Und…ähm…“, fuck! „äh, deine Frau?“ Ich KANN mir ihren Namen nicht merken.
„Mirijam ist schon im Büro. Könntest du Paulchen gleich zur Krippe bringen?“

Er erklärt mir den Weg und ich bitte ihn, mir stattdessen die Adresse aufzuschreiben, weil mein Gedächtnis noch nicht funktioniert. Nicht mehr funktioniert.
Wie Greta lächelt. Wie sie sanft ist. Wie sie umherfliegt in unserer sauberen kinderfreien Wohnung. Wie sie meinen Namen sagt und wie sie sich die Zähne putzt und mich dabei im Spiegel beobachtet. Wie sie immer den Weg weiß. Wie sie ihr Haar hinter das Ohr streicht beim Telefonieren. Wie sie sich eine Zigarette anzündet. Wie sie einen konzentrierten ersten Zug nimmt. Wie sie am Computer sitzt, duldsam, klavierschülerinnengleich. Wie sie sich dann umdreht und etwas Kluges sagt.
Und dann dringt der Andere ein in mein Erinnerungsparadies.

Ich stelle fest, dass der kleine Junge Paul noch nicht angezogen ist. Ich frage den kleinen Jungen Paul, wo seine Anziehsachen sind und er sagt: „Hallo.“

Ich schnüffel an seinem Po und mache mich dann zuerst auf die Suche nach einer Windel. Ich säubere den rosigen Hintern, ziehe dem kleinen Paul die frische Windel an, dann die Biene-Maja-Unterhose und das DFB-Trikot mit der 13.
Ich frage den kleinen Jungen Paul, ob er selber gehen oder getragen werde möchte. Er sagt „Arm“ und ich nehme ihn hoch. Dann suche ich noch nach Aspirin, löse zwei in einem Wasserglas auf und rieche unter meiner Achsel. „Der große Paul stinkt“, sage ich zum kleinen Paul und der kleine Paul hält sich die Nase zu. Ich trinke das Aspirin und frage mich, ob das das LSD vielleicht erst recht zum Kochen bringen wird.

Bei der Krippe angekommen, stelle ich Paulchen vor einer nach Kindergärtnerin aussehenden Frau ab und sage, die Hand ausstreckend, wobei ein giftiger Geruch aus meinem Poloshirt in meine Nase steigt: „Klinghofer, ich bin ein Freund von Herrn Frentz.“
Die Kindergärtnerin fragt sich, was für einen seltsamen Umgang die Frentzs pflegen. Ich setze meine etwas alberne Sonnenbrille ab und versuche, etwas Nettes, Witziges, nicht Drogenverstörtes zu sagen. „Viel Spaß mit dem Kleinen.“ Ich schiebe mir die Sonnenbrille wieder auf die Nase, wünsche noch einen schönen Tag und bin erst einmal ohne Aufgabe. Und allein.

Entschlossen greife ich zum Handy und lasse energisch bei Greta klingeln. Sie geht nicht dran. Verdammtverdammt. Soll ich doch in ihre Wohnung fahren? In unsere. Was soll das überhaupt heißen: „Wenn du mich respektierst, dann sei nicht da, wenn ich komme.“ Das ist doch das Letzte. Das ist Feigheit vor dem Ex-Freund. Nein, vor dem Freund, so schnell ist man doch gar nicht Ex, so eine Trennung ist doch kein Verwaltungsakt, eine Trennung ist ein Prozess und bei diesem Prozess sind wir erst auf der allerersten Stufe. Sie hat einen Vorschlag gemacht. Und wahrscheinlich hat sie mit diesem Anderen gefickt. Es fühlt sich an, als würde jemand einen Staubsauger in meinen Arsch schieben und auf höchster Stufe anfangen zu saugen.
Was hat sie überhaupt von dem Typen gesagt? Sie war bei ihm. Aber passiert ist nichts. Das war sicher gelogen. Oder nicht?

Es gibt doch bestimmt eine internationale Behörde, die darauf achtet, dass Trennungen sauber verlaufen. Sehr geehrte Damen und Herren, meine Freundin – ja, ich nenne sie noch Freundin, schließlich sind einseitige Auflösungen nicht rechtens – hat sich, als ich durch Einnahme von nicht-verkehrsfähigen psychotropen Substanzen in meiner Entscheidungs- und Reaktionsfähigkeit gehemmt war, von mir am Telefon getrennt. Nach sechs Jahren. Am Telefon!
Dieses Verhalten verstößt nach meiner Rechtsauffassung gegen Artikel 3 des Internationalen Abkommens zur Bekämpfung unlauterer Trennungen in Verbindung mit Paragraph 27b, Absatz 4 des Zusatzprotokolls zum Gesetz für Sauberkeit in Liebesdingen. Ich fordere das Hohe Gericht dazu auf, meine Freundin zu sofortiger Nennung des Namens meines Widerparts, sofortiger Wiederaufnahme der liebevollen Beziehungen und vollständigem Widerruf zu verurteilen.

Eine SMS kommt an.
„paul hoffe es geht mit dem lsd wieder. Ruf mich bitte noch nicht an. Die praktischen dinge können wir noch klären, deine möbel können noch eine weile hier bleiben. Ich möchte lieber nichts von dir hören jetzt. Respektier das doch bitte!!!“
Drei Ausrufezeichen. Ich smse zurück, dass ich drei Ausrufezeichen für völlig albern halte, schicke die Botschaft aber nicht ab.
Ich muss dringend duschen. Ich gehe wieder zurück zu Jakobs Wohnung. So früh war ich schon ewig nicht mehr auf der Straße. Normalerweise sehe ich kaum Rentner. Hier aber huschen sie ohne Unterlass an mir vorbei. Es ist ja ein Irrglaube, dass Rentner mehr Zeit hätten als Andere. Ihre Zeit läuft ab, natürlich wollen sie da ihre dahinrasenden Minuten nicht in Warteschlangen verbringen.

Also erledigen sie alles in den frühen Morgenstunden und geben sich dann Rentnerherrlichkeiten hin. Radiohören, ZDF-Jugendsendungen schauen, Fremde anrufen und so tun, als halte man diese für seine Enkel. Dann sagen sie mit zittriger Stimme „Bastian? Hast du auch den Kuchen bekommen?“ und lachen sich danach bei Schnaps und Obsttorte ins altersfleckige Fäustchen über den verwirrten Studenten am anderen Ende der Leitung.

9 Kommentare

  1. wie oft habe ich die sache mit den drei ausrufezeichen schon verfasst und dann nicht abgeschickt… :-/

  2. Großartig, der beste Greta-und-Paul-Text bis jetzt mMn.
    *niederknie*

  3. Das A und O

    Mensch, dieser Paul muss ja nen geilen Ticker haben.

  4. Molly Kühl

    @Maltefan:
    Dein devotes Jubelpersertum geht mir voll auf die Keimdrüsen. Wer, wie du, diesem Möchtegern-Philip-Roth beim Dilettieren freiwillig, ja sogar mit Wonne zusieht, sollte ernsthaft eruieren, einen Facharzt seines Vertrauens einzuschalten.

  5. @Molly
    Deine Keimdrüsen sind mir wurst, und de gustibus etc.pp.

    Wenn Dir Maltes Schreibe nicht gefällt, dann lies es halt nicht oder lass mich wenigstens mit Deinem Masochismus zufrieden.

  6. roth sollte übrigens mal den nobelpreis bekommen

    @molly: ja, einfach nicht hinlesen, wenns nervt. für mich das hier großartige abwechslung zu so sonstiger pseudoliterarischer befindlichkeitsscheiße in blogform. die dann leider manchmal sogar bei verlagen landet (aber mein gott, jeder mist vom leipziger literaturinstitut wird ja auch noch gedruckt).

  7. Earl E. Bird

    @roth sollte übrigens mal den nobelpreis bekommen:
    Sein Manko: Als Jude hat man wiederholt das Problem, mit israelischen Kriegsverbrechen, zuletzt in Gaza (siehe jüngste Ausgabe des DER SPIEGEL), konfrontiert zu werden. Er täte gut daran, sich öffentlich zu distanzieren. Dann klappts auch mit dem Preis. Völlig gaga ist nun der Umstand, dass Malte auch noch den Hardcore-Likudik Ephraim Kishon zu seinen literarischen Vorbildern zählt. Wahrscheinlich hat er noch ein Portrait der goldigen Frau Meir über dem Bett hängen und ist aus Solidarität beschnitten. Dazu müsste man Greta hören.

  8. Ich mag den Text, aber ich mag ja auch den Typen, Paul, und den anderen, der all das schreibt, den ja auch.

  9. Erinnert mich an die Textzeile eines Muff Potter-Liedes: “Wenn die Liebe ein Schlachtfeld ist, dann ist das jetzt dein Den Haag”

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