Ich bin unter Prenzlbergern, genauer: unter Lohas.
Ich bin Gast eines Ereignisses, das vor Jahren schon bei Polylux Erwähnung fand. Privates Kochen für Fremde. Oder Freunde von Freunden, wie man in Berlin sagt. Ein Bekannter, strahlendes Aushänge-Gesicht mehrerer Werbekampagnen, hatte sein allerstrahlendstes Lächeln aufgesetzt, um mich aus meiner Kreuzberger Enklave zu locken.
Lohas sind ungeheuer freundlich. Alle lächeln, als ich misstrauisch hereinschlurfe (denn so verhält man sich im Rheinland gegenüber Fremden: fremdelnd), und fast bin ich geneigt zurück zu lächeln, besinne mich dann aber darauf, dass ich ja schließlich nicht in einem thailändischen Massage-Club um Rabatt ersuche, sondern essen möchte.
Meine Lieblingslektorin wird zum Möhrchenschälen abberufen, die Werbeikone muss raspeln. Ein veganes Menü. Ich stehe sinnlos hinter meiner Lieblingslektorin, zupfe an ihrem Zopf (sie ist die einzige frisurlose Frau Berlins) und versuche mich an Ernährungsscherzen, die verpuffen.
Einige Söhne von Uwe Ochsenknecht schlurfen an mir vorbei, vielleicht sind es auch die Mütter/Schwestern/Groupies/Musen führender Emo-Ragga-Crossover-Bands, ich habe lange nicht mehr in der BRAVO geblättert, auch nicht beim Friseur, ein Nebensatz, der sich durch einen Blick auf mein Haar selbst erklärt.
Diese knabenhaften Mädchen oder elfenhaften Knaben sind jedoch nicht repräsentativ.
Frauen und Männer sind allesamt Prachtexamplare ihrer Gattung.
Die Frauen haben kräftiges, gesundes Haar, Pilates-Popos und ohne Zuhilfenahme von Tierversuchen alabasterisierte Haut, die Männer haben vor vier Jahren mit Kraftsport aufgehört und machen nun Hatha-Yoga.
Unter ihren weißen Hemden spannen sich Bauchmuskeln und ihre erlesen ausrasierten Schädel haben mindestens ein populärwissenschaftliches Buch angefangen in diesem Frühjahr.
Sie sind im Schnitt etwas älter als ich, sehen aber jünger aus und haben offensichtlich vor, noch länger zu leben.
Ich beschließe, augenblicklich wieder starker Raucher zu werden.
“Darf ich hier rauchen?”, frage ich und kann nachempfinden, wie sich Gang-Bang-Aktivisten fühlen, wenn sich herausstellt, dass ihr Veranstalter versehentlich eine gut besuchte Moschee als Schauplatz der Massenrangelei gewählt hat.
“Dürfen wir hier unser Sperma verteilen und kopftuchlose Frauen besudeln? Ist diese Sure an der Wand da noch frei für etwas Samen?”
Der Gastgeber murmelt etwas von Nikotinpflastern, die er eigens angeschafft habe, aber ich weiß nicht so recht.
Ich stelle mich zu einer verhältnismäßig gemütlich aussehenden Osteuropäerin und sage ihr, dass ich den Wunsch nach Nikotin jetzt mit Alkohol bekämpfen werde. Sie bemüht sich nicht um eine Erwiderung.
Ich öffne den mitgebrachten Wein, fülle das Glas überflüssig voll und trinke es so schnell es eben geht.
Mir ist danach, eine Tierart zu entdecken, irgendetwas kleines, puscheliges, mit weichen Unterbäuchen und großen Augen. Ich würde sie entdecken und ausrotten, ehe jemand von ihr erfahren hat.
Meine in ihrer Gutmütigkeit ans Doofe grenzende Lieblingslektorin schließt Freundschaft mit einer Mit-Schälerin, die von ihrer biologischen Uhr erzählt.
Babys, auch imaginäre, werden hier mit religiöser Inbrunst verehrt, ein Zimmer, in das ich hereintrampele, ist extra einem Baby geweiht, das dort ruht.
Habe ich das Baby geweckt? Wie geht es dem Baby? Ein kreidebleicher Vater stürzt an mir vorbei.
Wären Lohas zu Zornausbrüchen fähig, würde ich jetzt gelyncht werden.
Ich gebe die Weinflasche nicht mehr aus der Hand.
Ich erwische acht Leute (zweimal zwei Paare) dabei, dass sie sich auf Englisch unterhalten, obwohl keiner von ihnen außerhalb der Grenzen der BRD geboren wurde. Sie üben für ihre Nanny oder ihr Feldenkrais-Trainer hat es befohlen, aber in der Singularitäts-Debatte, die ich ihnen aufdrücke, geraten sie ins Schwäbeln.
Ich ziehe die Lieblingsschälerin an ihrem Zopf aus der Küche und sage:
“Lass uns fliehen.”
“Aber.”
“Mein Bewährungshelfer verbietet mir den Kontakt mit Leuten, die einen Personal Trainer haben und darüber sprechen.”
“Aber.”
“Woman, hab Erbarmen, ich habe schon versucht, mich zu ritzen, aber die Messer sind zu säugetierfreundlich.”
Unser Werbegesicht-Freund tritt hinzu, ich verabschiede mich und er guckt wie eine Mischung aus Indiana Jones und Baby Hermann. Ich würde ihm fettfreie Chips abkaufen und ein Shampoo, das ebenso wenig fettet wie die Chips, jeder würde das.
“Ok, dann bleibe ich, erst ruf ich dann noch Sybille an, die ist auch Soapdarstellerin.”
Das “auch” handelt mir einen länglichen Vortrag darüber ein, dass Werbung sehr viel hochwertiger sei als Soaps, außerdem habe er gerade erst Awards in Belgien, Finnland und der Ukraine für ein Hollywood-Weltkriegs-Drama erhalten: “Man kann mich nicht auf mein Aussehen reduzieren.”
“Na, dann komm, mein Award-Winning-Raspel-König, und hol mehr Wein.”
Die zahlreichen Gäste – nein!: Freunde – nicht-deutscher Herkunft bestehen darauf, dass man ihre absurden Namen ausspricht, als sei man selber in einer kasachischen Nebenhöhle groß geworden.
Mit einer leichten Zungenzerrung komme ich aus einem Gespräch mit einem türkischen Italienerdarsteller, der mit Vornamen Özgür und mit Nachnamen Köseoglu heißt, ausgesprochen ungefähr: Öschgurr Köschuluu.
“Öschgurr, schau mal, die Schupfnudeln”, schnarrt eine schulmädchenblonde Charmebombe und ich erinnere mich daran, dass Politologen für ihre Doktorarbeiten auch immer ein Wettrüsten der Sonderzeichen anzetteln – wer kann Usama Bin Ladin am abwegigsten schreiben?
Mir freigiebig nachgießend belästige ich ein ungarisches Model, das Fotografen-Assistentin werden möchte. Ihre russische Freundin übersetzt aus dem Deutschen, das ich spreche, in ein gebräuchlicheres Deutsch.
Ich sage meinen Standardsatz: “Dem Fall des eisernen Vorhangs ist es zu verdanken, dass es Pornographie mit Weißen gibt. Gleichzeitig ist dieser Umstand für die noch nicht demokratisierten Staaten des Nahen Ostens eine immer präsente Warnung, da ihren Töchtern der sichere Weg in Rocco Siffredis “All Fists In Teil 18″ bevorsteht, sollten Wahlen zugelassen werden.”
Dieser Satz kommt mal so, mal so an, heute Abend eher so.
Das Essen ist fertig. Der Salat ist, das muss ich leider einräumen, sagenhaft.
Meine Essensgenossen und ich sagen uns, dass wir uns jünger aussehend finden. Ah, lecker, Spinat.
Die pittoresken Epikureer werden nun zunehmend fröhlicher, sie trinken den Wein genau in der richtigen Dosis, so dass sie heiter werden, ohne ausfällig zu sein, beschwingt, ohne zu stürzen.
Ich bin in der Phase, in der ich jedem ins Gesicht sage, was ich gerade denke, vorzugsweise: Was ich über sein Gesicht denke.
“Du hättest wahnsinnig gut in Schindlers Liste mitspielen können” sage ich einer Sprechtrainerin, der Praktikantin einer “Be-Berlin”-Miterfindern rufe ich zu, sie sehe aus wie ein Maskottchen.
Bedenklich: Ich meine das nicht böse. Ich verehre osteuropäische Juden und niedlich finde ich besser als Garbo, schließlich habe ich ein Kaninchen.
Milde ist über mich gekommen wie Pusteblumenfallschirme über eine Spät-Winterwiese.
Ich erzähle einer jünger aussehenden Gleichaltrigen, warum man nicht Seinfeld mögen, aber von Curb your Enthusiasm sagen könne, das sei nur so eine Doku. Sie versteht mich und verspricht, von daheim aus gleich bei Amazon die DVD zu bestellen. Gott, ist die nett.
Endlich muss ich einmal nicht jammern. Ich kann sagen, dass es großartig ist, Mitte 30 zu sein – wann man davon absieht, dass man nur noch solange zu leben hat wie man schon gelebt hat, kann mir kein über 30jähriger erzählen, er wäre gern noch einmal 18. Es ist legal, meinen Beruf zu mögen. Ich muss nicht das System kritisieren und kann sogar einräumen, Sport zu machen.
Ich schäme mich nicht einmal mehr, Steuern zu bezahlen.
Das ungarische Model diktiert der Lieblingslektorin Palatschinkenrezepte und ich spare es mir sogar, etwas über Schinkenmangel zu sagen, ich lerne, wie man durch autogenes Training beim Bankdrücken mehr Gewicht schafft oder es sich vorstellen kann, mehr zu schaffen, ich kann es nicht genau sagen, denn ich bin noch zu intensiv berührt von dem Wiegenlied, das ich zusammen mit dem Vater zu Ehren des Babys gesungen habe.
Unbenutzte Füße. Ich wische ein heimtückisches Sandkorn aus meinem Auge.
Ich umarme den Italienerdarsteller, hauche “Das wird schon mit der Rolle in der Barilla-Werbung, ʘʤᴳᶹʌ̀”, küsse die Wangen von Creative Directors und Atem-Trainern, frage auf noch leicht gebrochenem Hebräo-Kurdisch, wer alles beim nächsten Mal dabei sei.
Dann werden wir nämlich bei mir essen.
Wir gehen vor die Tür, die Praktikantin steigt auf ihr Rad, ruft mir zu, ich sähe selber aus wie ein Maskottchen, wie ein Teddy. Ich finde das gut und schön.
Ich höre ein Geräusch in mir. Meine biologische Uhr. Sie tickt.
Ich schaue meine Lieblingslektorin an, sie holt eine Zigarette aus ihrem Robbenfell-Etui und sagt: “Denk nicht mal dran.”
Schön, dass das mal jemand sagt.
Meine Lieblingspunchlines, alphabetisch:
1. Mitschälerin
2. Die Sonderzeichenarmee
Auch die Vorstellung von Gang-Bang-Aktivisten lässt mein Herz rasen vor Freude.
@form
Allein: Sonderzeichenarmee steht da nirgends:)
Jetzt musste ich erstmal Lohas ergoogeln.
@Dirk
Habs mal ergänzt
Einfach nur großartig … Das klingt fast schon nach dem Kinkster (nur ohne Katze)
@Malte: Ich weiß doch! Ist ja auch nicht alphabetisch. Aber das Bild gefiel mir und du hast es immerhin angedeutet. Zeile 59.
Ja. Einfach nur ja. Ich wohne mitten unter Ihnen. Unter den PBerg-Lohas. Als kinderloser Raucher & Fleischesser. Wenn das raus kommt, bin ich geliefert.
Es ist aber auch immer schwer mit Leuten. Wäre gemeinhin viel einfacher ohne sie. Aber so versöhnlich wie am Ende klang hier noch kein Text. Was ist passiert? Wirklich das Alter?
ihren vorgängern, den am ende des marsches durch die institutionen an den fleischtöpfen angekommenen altachtundsechzigern, konnte man wenigstens noch den vorwurf des ”links reden und am rechten fleck leben” machen …
bei denen hab ich immer schwierigkeiten genau zu sagen warum ich den stift aus der handgranate ziehen will.
es hätte irgendwas mit verlogenheit und spießertum auf hohem nieveau zu tun würde ich wetten…
hab tränen gelacht und gehe jetzt ein robbenfelletui auf dawanda bestellen.
Dein Link ist ja fast noch besser als der Text. Aber nur fast!
Scheiße, ich hab lang nicht mehr so göttlich beim Lesen eines Textes abgefeiert. Grauenhaft genial. Jetzt muss ich mir wirklich ertstmal die Tränen wegwischen..
ist das ein gingko-blatt da im favicon der lohas-seite? ich hasse gingko-blätter. in meinem schädel sind die fest verknüpft mit krankenkassen-zeitschriften…
Köstlich, wirklich köstlich!
Berlin wird in meinen jungen Äuglein doch immer mehr zu einem Paralleluniversum.
Allerdings ist das Berlin der Mid-30ies wohl anders als das der Mid-20ies (bitte bitte bitte!) – kein Afrond, versteht mich nicht falsch, aber wenn ich aus Würzburg irgendwann mal rauskomme, will ich nicht von einem Extrem ins andere fallen, das verträgt mein Gemüt nicht – oder quatsch – mein Gemüt würd’ die Umwelt nicht vertragen.
(gelöscht)
@capisto Demnach sind Lohas die neuen Pazifisten?
(gelöscht)
falls es untergegangen ist
Warum steht der Typ auf lohas.de mit seinem Laptop an nem Baum? Was hat der denn vor? ich meine wer konzipiert denn so ein Foto?
@robert
Die real-existierende Nettigkeit der real-existierenden Personen.
Oder so.
Schwer zu sagen.
Weiß ja auch tatsächlich nciht, was mich da erst so wütend gemacht hat. Ich habe mich da selbst noch nicht ganz durchdrungen. Muss meinen Denk-Trainer fragen.
Verbieten. Löschen. Sperren… Auch Malte ist sehr deutsch…
Vielleicht befanden sich unter meinen gelöschten Beiträgen die entscheidenden Denkanregungen Richtung Ursache der Wut.
Malte, dein Artikel “Wie man einen Artikel PI-sicher schreibt” ist ohne Flachs der größte Stuss, den ich je gelesen habe und deiner nicht würdig. Dort heißt es:
> Dort posten sie dann Links, die nichts mit dem Thema zu
> tun haben.
Ah, *das Thema*. Klingt wie *die Deutschen* oder *der Einzelhandel*. Wenn du ehrlich bist, kannst du bei 2 Dritteln deiner Postings gar nicht mit Gewissheit sagen, was *das Thema* ist. Das liegt nämlich nicht zuletzt im Auge des Betrachters. Du fährst cholerisch fort mit:
> Ab jetzt fliegt hier alles wahllos raus, was nicht zum
> zum Thema passt. Und das überlasse ich nicht eurer
> Deutung.
Na, dann machen wir doch mal die Probe aufs Exempel. Meine Arbeitshypothese ist nämlich, dass es Links gibt, die sich einer Löschung dadurch entziehen, indem sie archetypische Gefühle eines jeden Webmasters tangieren. Dazu zählt der folgende sowie, bei Hetero-Webmastern, alle Jessica-Biel-sonnenbadend-am-Strand-von-Venice-Beach-FL-Pix:
http://www.pictureupload.de/originals/13478/310309143458_boote_jazz-kiddies.jpg
Capisto und Till sind wie Beamer. Sie projizieren ihre pet-peeves in alles und jeden. Und nein … ich krieche nicht Malte in den Arsch; das fällt jedem auf der mehr als zwei Gehirnzellen hat.
Böser Text Malte. Und mit böse meine ich gut. Obwohl ich gestehen muss, mich beim Betrachten der Lohas-Seite für 90% ihrer Ziele erwärmen zu können. Aber es ist auch hier wie mit allem: der Ton macht die Musik.
@stoertebeker:
> Till (ist) wie (ein) Beamer.
Falsch! Boomer!
http://www.youtube.com/watch?v=PMlVF3U0mTg
Like magic he appears, a hero to save the day
And just when you think he´s here for good
that´s when he goes away (…)
And when he comes into your life you´ll never feel the same for good.
ix kann ein/das Liedchen singen davon.
Tja, was soll ich groß sagen. Ich war ja sehr gespannt auf dein Geschreibe und nun hat es mich in den Bann, dem anscheinend viele unterliegen, gezogen.
Ich habe köstlich gelacht. Schöne Bezeichnungen die mir da gewidmet wurden, nicht nur mal was Neues, sondern mal was ganz Besonderes.. :)
Freu mich aufs nächste Loha-Abendmahl..
Marcel
Genialer Artikel!