Wir fahren zum Leichenschmaus in ein Café in der Innenstadt.
Große Platten mit belegten Brötchen stehen auf den zusammengerückten Tischen. Sehr zur Freude ortsansässiger Fliegen. Ich setze mich mit Jörg an einen Tisch. Bea kommt mit hektischen Flecken am Hals dazu, rückt einen Stuhl ab, ruft gedämpft mit Was-sollen-denn-die Leute-denken-Stimme: „Sébastien, komm hier her!“. Sébastien hat gerade einen sehr ansehnlichen Popel in seiner Nase entdeckt und lutscht an ihm mit wachsender Begeisterung. Dann schmiert er ihn in einem Anfall von Großmut seinem Bruder Séverin an die Backe.
Bea stürzt zu den beiden, reißt eine Serviette von einem Stapel herunter, der daraufhin zu Boden fällt, spuckt hinein und wischt den Popel von Séverins Backe. Sébastien ist ohnehin ein aufsehenderregend hässliches Kind, aber als er jetzt anfängt, hysterisch zu weinen, schauen die Gäste beschämt zu Boden.
Sein Anblick ist unerträglich.
Ich aber kann nicht wegschauen. Ich starre gebannt auf Sébastien, der mit seinem Flusenhaar, den hinterhältigen Glubschaugen, den grotesk überlangen Gliedmaßen und der Hundenase aussieht wie ein Rohentwurf für Grobi aus der Sesamstraße, den man verworfen hat, weil selbst Kinder mit ihrer hohen Hässlichkeitstoleranz während Testvorführungen in Tränen ausgebrochen sind. Bea zerrt ihn zu unserem Tisch und setzt ihn auf den Stuhl. „So, du bleibst jetzt hier.“
„Aber Mama“, Sébastiens Stimme kollabiert beinahe, gewinnt dann aber wieder an Fahrt, „du hast doch gesagt…“. Er verstummt. Rüdiger hat das Café betreten. Augenblicklich verschwindet die Wutröte aus Sébastiens Gesicht und plötzlich sieht er aus wie ein normal-hässlicher braver kleiner Junge.
Jetzt schieben wir mehrere Tische zusammen. Frédéric, Séverin, Sébastien, Jean-Paul, Dominique, Rüdiger, Bea, Franziska, Jörg und ich sitzen zusammen.
„Im Chinesischen steht das Schriftzeichen für Krise gleichzeitig für Chance“, sagt Rüdiger mit etwas Salami zwischen den Zähnen.
Jörg räuspert sich: „Tut mir leid, dass ich dich korrigieren muss, der Begriff Krise besteht jeweils aus einem Schriftzeichen der Begriffe Gefahr (er malt mit den Fingern ziemlich abstruse Kringel in die Luft: ??) und Chance (nochmal die abstrusen Kringel ??). Jeweils ein Zeichen der Begriffe Chance und Krise ist dasselbe: (ein letzter Kringel ?).“
Die beiden Kinder, die alt genug sind, um zu verstehen, was hier gerade geschehen ist – Dominique und Jean-Paul – erstarren mit offenem Mund. Jemand hat ihrem Vater widersprochen und der kann sich nicht wehren, weil der andere es offensichtlich besser weiß und kein Untergebener ist.
Sie schauen gebannt auf ihren Vater, die langen Unterarme auf die Tischplatte gepresst, den schmächtigen Rücken in Kauerstellung, so dass ihr Brustbein vor Anspannung in den Brötchen hängt.
Ein kindlicher Anfänger-Fehler. Klar, was jetzt kommt.
„Dominque, Jean-Paul, setzt euch anständig hin!“, blafft Rüdiger sie an.
Und schon ist die natürliche Ordnung wieder hergestellt. Zufrieden spült Rüdiger den Salamifetzen mit Kaffee. Dann fängt er an, in seinem Mund herumzupulen.
Franziska überlegt, was sie zu mir sagen soll, das erkenne ich daran, dass sie mich seit einer Minute anstarrt. Schließlich sagt sie: „Und bei dir?“
„Ich bin gerade umgezogen.“
„Ah. Und die Wohnung?“
„Ok. Halt kleiner.“
„Du verdienst ja schließlich auch kaum noch was“, schaltet sich Franziska ein.
„Wieviel machst du denn?“, fragt Rüdiger.
„Und wieviel macht dein Golf? Der Porsche von Papa macht 280“, quäkt Séverin.
„Ja, runtergeregelt“, sagt Rüdiger.
„Mein Golf macht, was ich will“, antworte ich.
„Wieviiiiiel?!“
„Auf dem Tacho steht: zweifache Lichtgeschwindigkeit.“
Zwei der Kinder finden die Antwort komisch, drei fühlen sich auf den Arm genommen.
Ich mache ein Chewbacca-Jaulen und habe jetzt drei auf meiner Seite.
„Du bist immer noch so ein Kindskopf“, sagt Franziska.
Jörg versucht seine zwei Meter in ein Loch im Stuhl zu zwängen, um dauerhaft und unauffällig zu verschwinden.
„Und es ist so unhöflich, dass du Rüdiger nicht antwortest“, zischt sie hinterher.
„Ach stimmt, du hattest ja eben nach Gretas Telefonnummer gefragt, soll ich sie dir aufschreiben“, sage ich mit Öl in der Stimme zu Rüdiger.
Der wird rot und quetscht hervor: „Paul, du bist so geschmacklos.“
Ich entschuldige mich, sage „Schlechter Scherz“ und konzentriere mich auf mein Brötchen.
Soso, 280? Pah. Richtige Fortbewegungsmittel kennen nur vier Stufen: sub-light speed, light speed, ridiculous speed, und ludicrous speed. Alles andere ist ja lächerlich.
Offenes Ende ist grausam. Und wie ich im Twitter schon geschrieben hab: Es steckt diese Negativität drin. Aber diese Situationen wird bestimmt jeder schon selbst erlebt haben und das ist es ja, was diese Texte ausmachen… weitermachen.
“Bea stürzt zu den beiden, reißt eine Serviette von einem Stapel…” – das müsste dann ja theoretisch sérviette heissen, bei den verzickten namen…
sehr schön. also, soweit schön hier der richtige ausdruck ist.
Zweifache Lichtgeschwindigkeit ^^
Den merk ich mir …