Ich grüße mit einem Blick in die Runde, so ernst wie möglich.
Bea umarmt mich vorwurfsvoll. „Du bist spät“, sagt sie.
„Es tut mir leid, die Autobahn war dicht.“
„Da haben sie im Radio nichts von gesagt.“
Ich umarme meine Mutter, die ihren Rücken steif macht, wie immer, wenn ihr jemand zu nah kommt.
„Paul.“ Sonst kein Wort.
Dann Franziska, die in der Schar von Beas Söhnen steht. Mein Vater hat mal gesagt, er wisse ja, dass er sie lieben müsse, aber irgendwie sei in seinen Enkeln zu viel von Beas Mann drin.
Ich reiche meinem Schwager Rüdiger die Hand. Rüdiger sieht aus wie ein fettgewordener Windhund-Rüde. Selbst seine Augen sind rotgeschwollen.
Wo nimmt er die Tränen bloß her? Rüdiger ist ein McKinsey-Arschloch und sofern das möglich ist, hält er von mir noch weniger als ich von ihm. Er zahlt im Puff mit Kreditkarte und lässt meine Schwester den Steuerberater fragen, ob man das als Werbungskosten absetzen könne (natürlich nur eine durch Stille Post entstandene Familienlegende, von Bea zu Franziska, von Franziska zu meiner Mutter, von meiner Mutter zu meinem Vater, von meinem Vater zu mir). Er fährt einen immer nagelneuen Porsche und kennt dessen technische Details auswendig. Er schwört auf klare Ansagen. Gegenüber seinen Klon-Kindern, gegenüber Bea, gegenüber den natürlich sozialverträglich abzubauenden Belegschaften der Firmen, die er niemals saniert, sondern nach dem immer gleichen Rezept einer blutigen Schröpfkur unterzieht.
„Wo ist denn Greta?“, fragt er. Keine Frage, dass er schon längst gehört hat, warum sie nicht hier ist. Er will es aus meinem Mund hören. Dass ich mit Greta bei Familienfeiern war und er mit der reizlosen, matschbusigen Bea überstieg sein Fassungsvermögen.
Ich nehme mir die Freiheit ihn zu ignorieren. Meine Mutter zeigt mir den Nachruf in den Aachener Nachrichten.
Der Architekt Karl Klinghofer ist blablabla. Soziales Engagement wird erdichtet. Ein paar Gebäude, die er entworfen hat, werden aufgezählt. Zwei von fünf stehen schon nicht mehr.
Am Ende war seine größte berufliche Leistung wahrscheinlich, nicht das berüchtigte Aachener Klinikum gebaut zu haben.
Dann fahren wir zum Friedhof. Die Kapelle ist aufwendig dekoriert. Ein Kranz ist von mir, wie ich sehe. Die Familie setzt sich in die erste Reihe. Ich schaue mich um.
In der dritten Reihe sitzt Jörg Baum. Ich hatte gar nicht daran gedacht, ihn anzurufen.
Wir nicken uns zu.
Dann fängt der Pfarrer an zu reden und es ist tatsächlich so wie alle sagen: Nichts berührt einen weniger als so eine Zeremonie. Der Gottesbeamte erzählt im ersten Drittel der Trauerrede, dass mein Vater zwar aus der Kirche ausgetreten sei, das sei aber nur eine Formalität gewesen, von Gott habe er sich nie abgewandt. Mein Vater hätte nicht einmal an Gott geglaubt, wenn dieser sich vor seinen Augen in einen brennenden Busch verwandelt und ihm hübsche Enkelkinder beschert hätte. Klar, er glaubte, dass man seine Frau nicht betrügt und Sex ein notwendiges Übel ist. Sex war viehisch und hielt die Menschen davon ab, sich zu entwickeln. Das klingt fromm, kam aber nur durch seine Erziehung. Er war ein Atheist, ohne die Freuden des Lebens ohne Gott genießen zu können.
Der Wolfgang Lippert unter den Unter-die-Erde-Bringern hört endlich auf zu reden. Jetzt singen wir alle. Ich schaue zu meiner Mutter und auch sie singt, ihre Stimme bricht nach oben weg und ich würde gern wissen, was sie jetzt denkt. Dann setzt Johann Sebastian Bach ein.
Ich starre auf den Sarg und zum ersten Mal wird mir bewusst, dass darin mein Vater liegt. Niemand da, meine Hose zurecht zu zupfen. Mein Kopf dehnt sich aus.
Ich kann nicht weinen, nicht hier, nicht jetzt, vielleicht nie mehr.
Warum es überhaupt Tränen gibt, weiß man nicht so genau. Wahrscheinlich als Signal an die anderen, dass man Trost braucht.
Ich bin völlig allein.
Ich muss keine Signale senden.
Dann gehen wir hinter dem Sarg her. Mein Zeitempfinden gibt auf. Vielleicht gehen wir hundert Meter, vielleicht 40 Jahre durch die Wüste.
Meine Schwestern gehen links und rechts von meiner Mutter, ich gehe neben Jörg Baum.
Wir haben uns seit drei oder vier Jahren nicht gesehen.
Jeder hat eine gewisse Zeitspanne, in der er gut aussieht. Manche sind als kleine Kinder wunderhübsch, andere erst als Greise, wie Richard von Weizsäcker. Ich hatte meine besten Jahre in der Zeit, als ich Greta kennengelernt habe. Die Depression hatte mir einen interessant ausgemergelten Look verpasst, selbst meine Haare schienen sich in Trauer zu glätten.
Jörg sah am besten aus zwischen 10 und 15. Er war ein Visconti-Knabe mit sanften Zügen, weichen blonden Locken und geschwungenen Lippen. Alle Mädchen aus der Klasse schwärmten für ihn. Als es mit dem Sex losging, wurde er von schwerer Akne befallen, von der sich seine Haut nie ganz erholt hat, später wuchsen dann seine Nasenlöcher (was nun wirklich unerklärlich war und wahrscheinlich nur jemandem auffiel, der ihn gut kannte und der oft seine martialischen Fürze anzündete und daher einen guten Blick von unten auf die sich weitenden Nasenlöcher hatte – allerdings haben wir doch das mit 16, 17 nicht mehr gemacht, die Erinnerung hält einen dermaßen zum Narren, wie soll das denn mit 70 erst werden?), die steile Stirnfalte seiner Mutter prägte sich in seinem Gesicht aus und sein Kinn schien sich Jahr für Jahr nach vorne zu schieben, wohl das Resultat einer mangelhaften kieferchirurgischen Arbeit.
Aber Jörg hat immer noch den gewaltigen Körper des gefürchtetsten Rückraumspielers im Kreis Aachen.
Wegen der Akne-Unterbrechung fing er erst im Alter von achtzehneinhalb Jahren mit dem Sex an und mit der Sorgfältigkeit des Spätstarters suchte er sich immer nur ernste, verantwortungsbewusste Mädchen, die sich für Umweltschutz und Fair Trade interessierten und mit denen er lange, verantwortungsbewusste Beziehungen hatte, bis sie ihn für einen animalischen Motorradfahrer aus Stolberg (Melanie), einen Bankdrücker von Alemannia Aachen (Ruth) und eine übergewichtige Yoga-Lehrerin (Kathrin) verließen.
Seine vierte Freundin Sabine, eine gutmütige Behindertenpädagogin mit runden Schultern, Lederarmbändern und einer Frisur, wie sie Nena bei ihrem Auftritt in der ARD-Spielbude am 15. März 1983 trug, vertrug sich nicht mit Greta.
Erzählte sie von ihrem Lieblingspatienten mit dem offenen Rücken, schaltete Greta den Fernseher an, zeigte ihr Greta ihre neuen Schuhe, nestelte sie an ihren Lederarmbändern und fragte, ob die Schuhe in Kinderarbeit entstanden seien. Greta lehnte es beim dritten Besuch der beiden ab, vegan zu kochen, überredete Jörg zu einer Rinderroulade, woraufhin sich Sabine den Rest ihres Aufenthaltes weigerte, Jörg zu küssen. Ein paar Mal trafen wir uns noch zu zweit, aber es war unbehaglich, weil ein Elefant in Form der Feindschaft unserer Freundinnen zwischen uns stand. Also plätscherte unsere Freundschaft aus.
„Wo ist denn Greta?“, flüstert er.
„Sie hat mich rausgeworfen.“
Als er sich runterbeugt, sehe ich, dass ihm auch noch die Haare ausgehen. Aber auf die beste Art. Es ist einfach jedes zweite Haar ausgefallen, ohne eine größere kahle Stelle zu hinterlassen. Sein freundliches Grimbartgesicht sieht traurig aus. „Manchmal ist eben alles scheiße“, sagt er.
„In Wirklichkeit ist es viel schlimmer.“
Er schaut mich prüfend von der Seite (von oben rechts) an. Ein echter Larry-David-Blick.
„Das klang jetzt viel zu bitter, war nur so dahingesagt“, sage ich, um ihn zu beruhigen.
Wir gehen schweigend weiter.
Dann stehen wir vor dem Grab.
Wir sprechen das „Vater unser“.
Meine Mutter schippt Erde auf den Sarg, dann meine Schwestern. Dann ich.
Dort liegt er. In diesem dunklen Loch. Das ist die Atheistenhölle. Ich werfe die Erde auf ihn.
Als nächstes gehen Menschen, die ich noch nie gesehen habe, an uns vorbei und kondolieren.
„Mein Beileid.“
„Danke.“
Ich spiele das neue Familienoberhaupt als wären wir ein Kurdenclan.
Ich plaudere mit alten Nachbarn, tätschele die Windhundköpfe meiner Neffen, bedanke mich die ganze Zeit, dass die Leute Zeit gefunden haben und höre, dass die Zeit alle Wunden heilt.
Dann fängt der Pfarrer an zu reden und es ist tatsächlich so wie alle sagen: Nichts berührt einen weniger als so eine Zeremonie.
Kommt drauf an. Bei der Trauerfeier für meinen viel zu früh verstorbenen Schwager bin ich unheimlich wütend geworden, weil der Paffe dauernd was von Vergebung gefaselt hat und ich nicht wusste, was mein Schwager überhaupt getan haben soll, damit er a) diesen frühen Tod verdient hat und b) man ihm auch noch vergeben müsste.
Wo ich so drüber nachdenke: Bei der Trauerfeier für meinen Vater bin ich auch unheimlich wütend geworden weil seine Freundin dem Pfaffen offensichtlich keinen Ton davon erzählt hat, dass er auch eigene Kinder hatte, wir also beim Durchhecheln seiner Lebensgeschichte überhaupt nicht vorkamen.
Insofern hat mich das beide Male schon ziemlich berührt … :/
Er war ein Atheist, ohne die Freuden des Lebens ohne Gott genießen zu können.
Das ist echt tragisch.
Greta lehnte es beim dritten Besuch der beiden ab, vegan zu kochen, überredete Jörg zu einer Rinderroulade, woraufhin sich Sabine den Rest ihres Aufenthaltes weigerte, Jörg zu küssen.
Greta ist mir sympathisch.
Eine ziemlich bedrückende Situation, der Text macht depresiv. Aber andererseits findet man sich selbst wieder. Das macht mir Angst, aber dennoch schaffe ich es, weiter zu lesen. Und als wäre die Beerdigung an sich nicht schlimm genug, schmeißt “dich” Greta noch raus. God damnit. Gutes Stück Text.
Frage mich die ganze Zeit gerade, ob die beiden Texte teilweise fiktiv sind oder nicht, und bin mir gleichzeitig recht sicher, dass Du das absichtlich unbestimmt lässt und nicht in den Kommentaren aufklären wirst. Ich habe aber den Eindruck, die Vorkommentatoren haben darüber unterschiedliche Annahmen getroffen.
Falls das fast alles aus Deinem Leben erzählt ist, dann frage ich mich, ob das denn eine gute Idee ist, dass Du so ungeschützt diese extrem persönlichen Erlebnisse und Familieneinblicke ins Netz schreibst. Es ist lesenswert, aber wie bringst Du das fertig? Zumal Dein Schwager Rüdiger jetzt – wenn es ihn denn gibt, und selbst wenn er anders heißt – öffentlich nachlesen kann, dass Du ihn für ein aalglattes McKinsey-Arschloch hältst.
Und wenn er es nachlesen könnte? Da sich ja beide nicht leiden können, scheint es ja kein Problem zu sein.
Ich kann’s nicht ausschließen, dass es so ist. Aber sie geben sich in der Erzählung immerhin die Hand und vergleichen sich nicht mit fettgewordenen Hunden und nennen den anderen nicht ein Arschloch. Das ist doch ein gewisser modus vivendi, zu dem die gefunden haben, und der wäre hier dann öffentlich aufgekündigt worden.
Das mit dem Rüdiger war aber auch eigentlich das einzige, was ich eher schmunzelnd schrieb. Die Mutter zum Beispiel, die sich von ihrem eigenen Sohn nicht umarmen lassen möchte, das ist doch auch hammerhart.
Ganz beim ersten Drüberfliegen übersehen: Die Familie vom Schwager, dem Mc-Kinsey-Arschloch, kommt ja auch nicht gut weg. Matschbusige Frau mit Klon-Kindern.
Ob fiktiv oder nicht ist doch egal und nicht des Lesers Problem, und hier macht auch die Veröffentlichkeitsart keinen Unterschied.
Dazu:
http://en.wikipedia.org/wiki/You_Can%27t_Go_Home_Again
warum laufen hier soviel hippies rum?
die scheisse als autor ist wohl, dass man sich sein publikum nicht aussuchen kann…
… und im internet bekommt man sie dann auch noch ungefiltert mit.
das leben is ein arschloch, echt!
“Dann fängt der Pfarrer an zu reden und es ist tatsächlich so wie alle sagen: Nichts berührt einen weniger als so eine Zeremonie. ”
Eigentlich sind es die Momente wenn man nochmal alleine vorbeischaut um dem Stein mit dem Namen “Leb wohl” zu sagen, oder Jahre später um dem Stein mit dem Namen “Hallo” zu sagen.
@heiner
Wie in den meisten Erstlingswerken wird auch hier Autobiographisches enthalten sein — man weiss halt nur nicht, was genau autobiographisch ist. Insofern ist das mMn weder ungewöhnlich noch sonderlich problematisch.
David Sedaris z.B. hat da sicherlich mehr Probleme und lebt auch ganz gut damit.
sehr schön.
“Am Ende war seine größte berufliche Leistung wahrscheinlich, nicht das berüchtigte Aachener Klinikum gebaut zu haben.” :)
@heiner: ich habe das sichere gefühl, dass malte weiss, was er tut (meistens zumindest).
Sehr schön geschrieben.
Wirkt sogar stellenweise wie ein Déjà-vu auf mich…