Die Beleidigten

Der Kopf ist rund, heißt es, damit das Denken die Richtung ändern kann. Leider ist mein Kopf eine Kugel, sodass meine Gedanken gleichzeitig in alle möglichen Richtungen schweben. Ich bin, so muss ich einräumen, unentschlossen. Meine Mutter war CDU-Wählerin, mein Vater eine Art Kommunist, darauf führe ich diese Unentschlossenheit zurück. Irgendwo zwischen „jeder für sich“ und „alle für mich“ hängt mein Denken in der Luft.

Zeitungen haben gerne eindeutige Meinungsartikel, Bücher sollten sich in einem Satz zusammenfassen lassen, und mein Einwand, warum ich denn ein Buch schreiben solle, wenn man es durch einen Satz ersetzen könne, wird von Marketingleuten mit einer Geste beantwortet, die Marketingleute im Studium an der Fachhochschule gelernt haben: Mit dieser Geste bedeuten sie Leuten, sie mögen gefälligst mal in der Wirklichkeit ankommen.
Aber auch im Privaten bin ich kein Meister der Entscheidungsfindung. Chatte ich mit unter 25-Jährigen, die sich bekanntermaßen hauptsächlich mit Smileys der Welt mitteilen, so kann ich mich nicht entscheiden, ob ich meine Zeilen ebenfalls mit Klammern und Semikola schmücke, oder doch lieber meine Antworten aussehen lasse, als redeten die jungen Leute mit ihrem Lateinlehrer.

Finde ich den „Tatort“ spießig und traurig deutsch oder gesellig und fröhlich regional? Schätze ich den Karneval als Gelegenheit, mich unbehelligt in die U-Bahn zu übergeben oder lehne ich ihn als martialische Gutelauneschlacht für Saisonallächler ab? Gesetze: alle einhalten oder nur die besten? Schule: strenge Lehrer oder kuschelige? Vermieter: auch nur Menschen oder eben gerade nicht?

Mir fehlt der klare Standpunkt, ich bin alles andere als eine Wand, gegen die es sich anzurennen lohnt. Und doch beleidige ich immer alle.

Beleidigtsein ist das neue Schwarz

In diesen wenigen Zeilen habe ich bereits CDU-Wähler („Wie kommen Sie darauf zu behaupten, der Kern des christdemokratischen Denkens sei „Jeder für sich“?), eine Art Kommunist („Klippschüler wie Sie sind es, die dem Kommunismus den Garaus machen, indem sie ihn böswillig fehldeuten als Ausnutzung der Fleißigen durch die Faulen“), unter 25-Jährige („Als frischgebackener Abiturient möchte ich Ihnen mitteilen, dass Sie, nur weil Sie im Chat von Knuddels.de Ihre Freizeit verbringen, kein abgeschlossenes Bild der Lebenswirklichkeit der Menschen unter 25 haben“) und Lateinlehrer („Ich unterrichte seit 37 Jahren Latein, wurde als Kind noch zum lateinischen Aufsatz geführt, was ja leider längst nicht mehr so praktiziert wird, und muss seit 37Jahren gegen das Vorurteil angehen, Lateinlehrer seien staubtrockene Erbsenzähler. Setzen sechs!“): beleidigt. Und natürlich Marketingleute und Fachhochschul-Rektoren, „Tatort“-Seher und -Verächter, Karnevalisten und Marschkapellenphobiker, Gesetzestreue und Anarchisten, Vermieter und solche, die es werden wollen.

Weiter in der Berliner Zeitung

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