Der Urpaul

Ich träume von einem Schwimmbad. Ich trage Verantwortung, vielleicht bin ich Bademeister, eher aber noch Sportlehrer. Geschrei setzt ein. Ein gesichtsloser Schüler skandalisiert, dass ein anderer Jod unter der Dusche verwendet hat. Ein Dritter meldet sich zu Wort und sagt, das Medikament, das er nehmen müsse, vertrage sich nicht mit Jod.
Ich lasse mir den Beipackzettel zeigen. Auf dem Beipackzettel ist das Bild einer Großmutter gedruckt. Diese Großmutter ist der einzige Fall einer Gegenanzeige. Sie hatte Jod und das Medikament im Mund gemischt, woraufhin Funken aus ihrem Mund schlugen.
Zutiefst vernünftig vermittele ich daraufhin, lobe den Ankläger für seine Aufmerksamkeit und tadele sanft seine denunziatorische Seite.
Als ich aufwache, erinnere ich mich außerdem daran, dass ich Herzen heilen konnte, indem sich Menschen in mich verlieben.
Greta ist schon aufgestanden. Ich rufe nach ihr, sie ist nicht da. Mein Hals ist trocken und mein Kopf schwirrt. Ich versuche den Traum zu deuten. Gelingt mir nicht.
Ich hole mir ein Glas Wasser aus der Küche und lege mich wieder ins Bett, greife nach meinem Laptop und fange an, meine Mails zu beantworten. Herzen heilen, indem andere sich in mich verlieben. Ich stehe wieder auf, rufe Greta an, aber sie geht nicht an ihr Handy.

Ich surfe ein paar Minuten, dann drücke ich auf Wahlwiederholung. Ich bin so furchtbar lästig. Sie geht nicht dran. Ich rufe Kirsa an. Mailbox. Ich spreche nicht drauf. Mache ein paar Liegestütze, fasse meine Langhantel ins Auge, lasse sie aber unberührt liegen.
Dann setze ich mich wieder aufs Bett und surfe weiter, finde nichts Interessantes. Kann mich nicht entscheiden zwischen den drei Büchern, die ich gerade lese, Fleisch ist mein Gemüse, Sternstunden der Bedeutungslosigkeit und Unentschlossen. Ich nehme alle drei mit zum Sofa, lege sie ab, mache mir Tee und einen Toast mit Erdbeermarmelade.
Ich fange mit Unentschlossen an, kann mich aber nicht konzentrieren.
Meine alte Freundin Anna erlöst mich aus meiner Grübelei.
„Nur noch neun Stunden, dann sitze ich endlich vor dem Fernseher“, freut sie sich.
„Ich mache doch diese Progressive Muskelrelaxation“, antworte ich. „Zum Ende der Übungen soll man sich ein Ruhebild vorstellen. Bei mir ist das: Paul im Pool, toter Mann spielend, um mich herum nur Blau und Licht und das gedämpfte Geräusch spielender Kinder. Bei dir wäre das: Anna vor dem Fernseher mit einer Flasche Wein.“
„Das siehst du ganz richtig. Das ist mein kopfeigener Bildschirmschoner.“
„Kopfeigener Bildschirmschoner ist gut. Das muss ich mir aufschreiben. Ich bekomme von den Lesern sowieso nur Applaus für Sachen, die in Wirklichkeit du gesagt hast. Moment.“
Ich suche mein Moleskine und schreibe Kopfeigener Bildschirmschoner (Ruhebild = doof vor dem Fernseher sitzen) hinein.
„Da muss ich dich gleich mal was fragen. Was heißt wohl: Thomas K, kann ich nicht mehr lesen, irgendetwas mit sch, also Thomas Kasch oder Karsch, dann in Klammern berüchtigtes KZ ungleich Vier-Sterne-KZ?“
„Da hat beim letzten Mal, als ich bei dir war, so eine Fernsehnase von einem berüchtigten KZ gesprochen und du hast dich gefragt, was wohl das Gegenstück dazu wäre.“
„Du bist großartig, danke! Ich schaue überhaupt nur noch Fernsehen, um Energie fürs Bloggen zu bekommen. Eine Stunde Anne Will gibt genug Hass für ein halbes Jahr.“
„Ich finde Fernsehen toll.“
„Du bist halt eher so der Lean-Back-Typ.“
„Ja, nee, ist klar.“
„Will sagen: du lehnst dich beim Medienkonsum gern zurück. Computer ist dagegen ein Lean-Forward-Medium. Ist Medienidiotensprache.“
„Danke, dass du mich einweihst. Weswegen ich aber eigentlich anrufe; der Dehag war heute wieder so unglaublich wahnsinnig unterwegs. Der stand eben vor der Toilette und hat jeden, der vorbei kam, dafür verantwortlich gemacht, dass kein Klopapier da war.“
„Was Rückschlüsse auf die Reinheit seines Rektums zu diesem Zeitpunkt zuließ.“
„Jaha, oh, ich muss aufhören, bis später.“
„Mach es…“. Schon aufgelegt.
Ich rufe mal wieder Greta an. Nichts. Bei Kirsa kann ich nicht erneut anrufen, so nah stehen wir uns noch nicht.
Also dusche ich und gehe ins Rubens zum Frühstück.

Ich nehme ein Sultanfrühstück zu mir. Frisch gepresster Orangensaft ist das Beste, was man im Mund haben kann. Endlich entspanne ich etwas. Dann kommt aus den Lautsprechern Grace Kelly und die Entspannung ist wieder weg.

Diesen Ausschnitt habe ich in den Tiefen meines Rechners gefunden. Er stammt aus der ersten Version der Geschichten um Paul und ist etwa von 2008. Zunächst sollte Paul zwischen Greta, seiner vollkommenen Freundin, und Kirsa, einem Mädchen, das nur er gut findet, stehen. Nach und nach ist der Fokus dann in Richtung Trennung von Greta gerutscht. Um die Zeit nach der Trennung ging es dann in einer Reihe von Geschichten, die ich ab 2009 hier im Blog veröffentlicht habe.
Eine erneute Transformation erlebt Paul, der zunächst ein Anwalt war, der sich zum Unmut Gretas als Blogger versuchte, und dessen Geschichte in Zeitlupe erzählte wurde, in meinem nächsten Buch.

2 comments

  1. Dein Camp-steil gefällt mir.
    “Eine Stunde Anne Will gibt genug Hass für ein halbes Jahr.” ist ja auch wahr.

  2. Ich freue mich. Habe die Paul-Geschichten immer mit großen Vergnügen gelesen.

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